Liebe Mitchristen!
Viele Gegebenheiten in der Welt, besonders in unserer unmittelbaren Umgebung
und in unserem eigenen Leben lassen uns die liturgische Zeit des Advent als
besonders wichtig, anregend und kostbar erkennen.
Vor wenigen Tagen erhielt ich von einer Frau aus einer anderen Diözese einen
dringenden Anruf mit dem Wunsch: "Sollten wir uns nicht in ganz Österreich zu
einem Sturmgebet vereinen? Könnten Sie mit Ihrer Diözese nicht allen anderen
vorangehen?" Sie war gerade von einer Fahrt mit einem Hilfszug von Kroation
zurückgekehrt und von der Begegnung mit verängstigten,
bedrückten Menschen zutiefst beeindruckt. - Jemand anderer kam mit der Sorge:
"Nehmen Sie doch Ihren Einfluss wahr!" - "Welchen Einfluss?", fragte ich nicht
wenig verblüfft zurück. "Mobilisieren Sie die Gläubigen!", folgte prompt die
erbetene Erklärung.
"Was können wir tun?" Einige meiner Mitbrüder meinten: Die Friedensgebete, die
beim Golfkrieg begonnen wurden, erneuern und fortsetzen, allerdings das Tun
darf nicht fehlen. Wir kamen zu dem Schluss, alle sollten wir die
Herbergssuche vor Augen haben, für Aufrufe der Caritas hellhörig sein und in
der Weihnacht unsere Geschenke teilen oder zugunsten der Bedrängten ganz auf
sie verzichten. Es wurde noch hinzugefügt, es wäre zu billig, einfach nur
einen konkreten Tag für dieses Gebetsanliegen oder eine bestimmte Aktion
festzulegen; viel mehr ist erforderlich.
Der hl.Paulus schreibt den Römern: "Bedenkt die gegenwärtige Zeit: Die
Stunde ist gekommen, aufzustehen vom Schlaf" (Röm 13,11). - "Wie kommt es?" -
fragte mich jemand vor einigen Wochen-, -" dass wir angesichts dieses Krieges
in Jugoslawien so ruhig sind? Ist es nicht so, dass viele die Nachrichten mehr
oder weniger aufmerksam verfolgen, aber im Grunde genommen nur wenig davon
berührt sind?"
Ob uns der Herr nicht genau das sagen will: Wir sollen aus dem Schlaf
aufwachen? Es gibt ja auch genügend Vorgänge in unserer unmittelbaren Umgebung
und wohl immer auch in unserem eigenen Leben, die uns sehr nachdenklich
stimmen müssen. Vor wenigen Tagen erzählte mir jemand in einem Brief, dass in
seinem engsten Bekanntenkreis zwei Mädchen im Alter von 17 einhalb und 19
Jahren
heroinabhängig und in die Beschaffungskriminalität (Prostitution) verfallen
seien. Die Eltern, Verwandten und Bekannten sind verzweifelt. - Wie kommt es,
dass wir angesichts der Krise in unserer Umgebung, in Familien oder bei
Einzelpersonen so ruhig bzw. zuerst vielleicht eine Zeitlang tief erschüttert
sind, aber dann bald zur gewohnten Tagesordnung zurückkehren?
Ich möchte nicht zuviel schwarze Tinte auftragen, aber es hat keinen Sinn,
über die schweren Krankheitssymptome unserer Gesellschaft hinwegzutäuschen. Es
hat auch keinen Sinn, Schuldzuweisungen durchzuführen und zu sagen: Die Jugend
ist selber schuld, was sicher nicht wahr ist, oder die Eltern sind schuld, die
Lehrer oder die Gesellschaft. - Aber ist es nicht wirklich höchste Zeit, vom
Schlafe aufzustehen?
Als Christen haben wir auf jeden Fall Grund zur Hoffnung. Der hl. Paulus
fügt seiner Aufforderung, vom Schlafe aufzustehen, die Worte an: "Denn jetzt
ist das Heil uns näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden" (Röm 13,11).
In der Tat scheint mir im Hinblick auf die Not in Kroatien, in der Welt, wie
auch bei uns mitten im Wohlstand der pastorale Gedanke, dem Einzelnen bzw. den
Gemeinschaften besonders die eucharistische Anbetung anzuempfehlen, in keiner
Weise einfältig, sondern sehr naheliegend. Die Kirche glaubt fest daran, dass
in der Heiligen Messe Brot und Wein in den Leib und das Blut des Herrn
verwandelt werden und dass nach dieser heiligen Wandlung unter den Gestalten
von Brot und Wein Christus, zwar sehr geheimnisvoll und verborgen, aber
dennoch wirklich, wahrhaft und wesenhaft als wahrer Gott und wahrer Mensch
gegenwärtig ist.
Eucharistische Anbetung bedeutet daher sich dem lebendigen Christus
zuwenden und den Glauben an seine reale Gegenwart erwecken; sie bedeutet
erkennen, dass wir nicht allein sind, weil er wahrhaft Emmanuel, d.h. Gott mit
uns, ist.
Man sagt, dass Not ein guter Lehrmeister sei. Ob es nicht notwendig ist, dass
wir unsere Ohnmacht erleben? Wir sagen dann, dass wir in dieser oder jener
Angelegenheit nichts tun, sondern "nur" beten können. Gerade das aber ist
heilsam. "Wirf deine Sorge auf den Herrn", heißt es im Psalm. Die
eucharistische Anbetung ist eine konkrete Kanalisierung unseres Bedürfnisses,
die Sorgen auf den Herrn zu werfen. - "Du bist der Sohn des lebendigen Gottes"
(Mt 16,16), bekennt Petrus im Heiligen Geist. Im gleichen Heiligen Geist
können und sollen auch wir bei der Anbetung bekennen, dass Christus der aus
Maria geborene, Mensch gewordene Sohn Gottes ist. So eröffnen sich Wege der
Hoffnung, denn "Du bist mein Licht und mein Heil" (Ps 27,1). - Es eröffnen
sich aber auch andere, neue Horizonte.
"Aber eine Aufforderung zum Gebet ist zuwenig, wir müssen auch etwas
Tun...?"
Es muss uns bewusst sein: Ein Gebet, das nicht zum Tun führt, ist
nicht echt. Die große Beterin Theresia von Avila schreibt: "Was nützt es uns,
wenn wir vor Gott große Feste feiern, aber unseren Nächsten nicht lieben."
Als der Golfkrieg ausbrach, organisierte eine mutige Frau in einer Gemeinde,
die in den letzten Jahren sehr zerspalten war, ein gemeinsames Friedensgebet
in der Kirche und lud bewusst und ganz offen auch jene zum gemeinsamen Gebet
ein, die leider gewöhnlich nicht mehr miteinander redeten. Sie sagte zu ihnen:
"Wenn ihr ehrlich um den Frieden beten wollt, dann müsst ihr auch um Frieden
bemüht sein". - Dieses Gebet bedeutete nicht nur eine neue Hoffnung für die
Bedrängten in den Kriegszonen, sondern auch einen neuen Anfang im Dorf.
Wahres Gebet schließt immer die Haltung des Samuel ein, der von Eli, dem
erfahrenen Priester, gelernt hat zu sagen: "Rede Herr, dein Diener hört." Wir
müssen, wenn wir Ihn aufrichtig suchen und anbeten, auf Sein Wort hinhören,
und daran denken, dass Er sicher jede einzelne und jeden einzelnen von uns
persönlich anspricht: Unser Gebet um den Frieden wäre nicht echt, wenn wir
nicht selbst in unserem eigenen Umfeld - in der Familie, am Arbeitsplatz, in
der Kirche (!) oder in der Gemeinde - um Frieden bestrebt sind, und es wäre
pharisäisch, wenn wir nicht tatkräftig bemüht sind, die Not jener so gut wir
können zu mildern, für die wir in unserem Gebeten bitten. Wahres Gebet
mobilisiert unsere guten Anlagen, führt zur Umkehr und neuer Bemühung, weil es
unseren Glauben stärkt, auf Gott und seine Gebote schauen lässt und unsere
Liebe weckt. Gleichzeitig lässt es uns erkennen, dass uns Gott, der uns seinen
Sohn gesandt hat, in allen unseren Anstrengungen beisteht, und so sind wir
trotz aller persönlicher Schwachheit und aller Schwierigkeiten guter Hoffnung
und strengen uns gestützt auf seine Hilfe oft von neuem an.
Eucharistische Anbetung richtet außerdem unseren Blick auf die unbegreifliche
Hingabe Christi, der in seiner Liebe zu uns soweit gegangen ist, dass Er nicht
nur sein Blut vergossen und sein Leben für uns verschenkt hat, sondern sich in
der Verborgenheit der heiligen Hostie uns ausliefert und für uns da ist. Es
ist verständlich, dass oft im gesammelten Gebet vor dem Allerheiligsten in so
manchen Herzen eine gute Unruhe geweckt wird.
Ein einzelner Gebetstag oder einzelne Aktionen für den Frieden sind
wünschenswert, aber doch viel zu wenig. Wir müssen beharrlich beten. Das Gebet
für den Frieden lässt sich mit einer wahren Adventgesinnung gut verbinden. Wie
wäre es mit einem konkreten Vorsatz? Z.B.: jeden Tag eine gewisse Zeit dem
Gebet widmen, in der Heiligen Schrift lesen und auf Ihn hören; die Roratemesse
besuchen oder den Rosenkranz verrichten mit einem großen Verlangen im Herzen:
"Komm Herr Jesus!".
Dieses Beten wird uns ganz gewiss dazu führen, unseren Schwestern und Brüdern
in Not großherzig beistehen. Wir werden auch Impulse empfangen, Hügel
abzubauen und Täler einzuebnen (vgl Mk1,3) in unseren Familien und unserer
Umgebung, aber auch in unserem eigenen persönlichen Leben in dem Sinn, dass
wir unsere Fehler abbauen und um die richtigen Haltungen bemüht sind. Den
Advent gut leben, sollte für uns bedeuten, dass wir in dieser Zeit der
Vorbereitung auf das Weihnachtsfest jeden Tag in einigen Punkten unseres
Strebens nach einem besseren Christsein konkret bemüht sind
"Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nahe. Darum lasst uns ablegen die Werke
der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichtes. Lasst uns ehrenhaft leben
wie am Tag, ohne maßloses Essen und Trinken, ohne Unzucht und Ausschweifung,
ohne Streit und Eifersucht. Legt als neues Gewand den Herrn Jesus an" (Röm
13,12-14).
In der Hoffnung auf einen wahren Weihnachtsfrieden wünscht einen gesegneten
Advent
Feldkirch, im Advent 1991
+ Klaus Küng