„Berufen zur Liebe“

 

Eröffnungsreferat von Familienbischof DDr. Klaus Küng

webkuengDer Titel des Vortrags lautet „Berufen zur Liebe“. Eine allererste Erwägung könnte schon darin bestehen zu überlegen, ob dieser Titel bewusst so gewählt wurde: „Berufung zur Liebe“, also zu „der Liebe“, Liebe in Einzahl, gemeint ist „die Liebe schlechthin“, oder ob man besser geschrieben hätte: „Berufen zu Liebe“, gemeint wäre ein subjektiver Zustand, der bei jedem Menschen, der liebt, verschieden sein wird. Ich hoffe, dass sich aus dem Inhalt des Vortrags eine Bestätigung der Richtigkeit des gewählten Titels ergibt.

Um zum Thema hinzuführen, möchte ich mit drei Beispielen beginnen:

Erstes Beispiel: Eines Tages suchte mich ein stattlicher junger Mann auf, der einer sehr bekannten, wohlhabenden Familie entstammte, intelligent, mit gutem Auftreten, sympathisch. Er verblüffte mich mit der Frage, was meiner Meinung nach die Aussage der Heiligen Schrift bedeutet: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken“ ... und „du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Mt 22, 37).
Ich fragte ihn, worauf er hinaus wolle. Er erklärte dann (er bezog sich auf seine Familie): Sie gehen am Sonntag zur Messe, sitzen in der ersten Reihe, empfangen die Sakramente, stehen überall in hohem Ansehen, aber es geht ihnen im Grunde genommen nur darum, noch mehr Geld anzuhäufen, sich noch mehr leisten zu können und in allem das Beste zu haben. Er schilderte dann seine Situation: er sollte im Betrieb der Eltern einsteigen, sich ihren Vorstellungen unterordnen und fragte sich: Wozu das Ganze? Nach dieser Darstellung begannen wir dann miteinander darüber zu reden, was eigentlich Liebe, was das Ziel des Menschen ist, und worauf es letztlich ankommt.

Das zweite Beispiel bezieht sich auf eine Frau, die sich in einen Priester verliebt hatte. Der Priester wollte in keiner Weise sein Priesteramt aufgeben. Sie sagte: „Liebe ist das Höchste. Du stellst mich auf die Seite. Wie kannst du mir das antun?“ Sie war trostlos, auch ihm ist es schwer gefallen, aber er ist auf seinem Weg geblieben. – Was ist Liebe? Was ist die Liebe? Und auf beiden Wegen – in Ehe und Zölibat ist das letzte Ziel das ewige Leben, die unendliche Liebe in Gott.

Das dritte Beispiel: Eine verheiratete Frau ist unglücklich. Sie sagt, sie habe ihren Mann am Anfang wirklich geliebt, er sei aber sehr bald untreu gewesen; sie habe mehrmals versucht, ihm zu verzeihen und ihm eine neue Chance zu geben; er sei in der Tat bei ihr geblieben, aber seit längerem sei es, als wäre in ihrem Inneren etwas end-gültig zerbrochen. Es sei nichts mehr da. Was ist Liebe?

Was ist Liebe?

Eine gute Frage. Viele Bücher wurden darüber geschrieben. Wir reden zwar ständig über Liebe, aber es ist schwierig, ja unmöglich, in wenigen Worten zu sagen, was Liebe ist. Das Wort ist zudem abgebraucht, trotzdem aber unersetzbar.

In Anlehnung an die Darlegungen Josef Piepers „Über die Liebe“ (Gösel-Verlag, 6. Auflage, vgl. Seite 38) könnte man sagen:
Die Liebe ist etwas, das wir als bewusst Agierende selber „ausüben“ und tun; sie ist aber auch etwas, das uns überkommt und wie eine Verzauberung widerfährt. Sie ist einesteils eine Regung, die auf Haben und Genießen, Verkosten aus ist, andererseits ist sie eine Gebärde der selbstvergessenen Hingabe und des Schenkens, die gerade nicht das Eigene sucht. Liebe ist eine Hinwendung, die möglicherweise Gott meinen kann, auch andere Menschen (den Freund, die Geliebte, den Sohn oder den Unbekannten, der unserer Hilfe bedarf), aber auch die vielfältigen Güter des Lebens (Kunst, Sport, Wissenschaft, Beruf, Wein, Kleider). Liebe ist schließlich ein Akt, der Gott selber zugeschrieben wird und sogar in bestimmtem Sinn mit ihm identisch ist. Es heißt ja in der Heiligen Schrift: „Gott ist die Liebe“ (1 Joh 4, 8).

Liebe setzt Erkennen voraus, sie entspringt aber dem Willen. Sie ist sogar der Urquell des Wollens. Liebe drängt zum Tun. Man wendet sich dem zu, was man liebt. Liebe trägt den Wunsch in sich, erkennbar, spürbar zu werden. Sie führt dazu, dem anderen beizustehen, sie will Freude bereiten. Sie verlangt auch nach tieferem Erkennen, will alles wissen, was die geliebte Person oder die geliebte Sache betrifft.
Liebe ist, wenn sie diesen Namen verdienen soll, geistig bzw. wenigstens immer auch geistiger Art. Das Körperliche kann und soll Träger des Geistigen sein. Da der Mensch aus Leib und Seele besteht, kommt der Liebe des Menschen eine entsprechende leib-seelische Struktur zu. Liebe ist von ihrem Wesen her frei.

Beim Nachdenken über diese inneren Zusammenhänge wird bewusst, wie wichtig für die Entfaltung der Liebe die freiwillig getroffene Entscheidung ist. Liebe führt zu freiwillig eingegangener Bindung. Es kommt beim Entstehen und in der Entwicklung einer Liebe der Punkt, an dem es zu einem „Bedürfnis“, in gewissem Sinn zur „Notwendigkeit“ wird, sich zu binden: Man möchte dem anderen „gehören“, genauso wie man ihn „besitzen“ möchte. Diese Bindung ist, wenn sie fest und endgültig wird, ein Schutz der Person und ihrer Würde, sie schenkt Geborgenheit. Das gilt für die Beziehung zu Gott und für die Beziehung zu den Menschen. Treue Freunde fühlen sich wohl und gelöst, froh und gesprächig, wenn sie beisammen sind. In besonderer Weise gilt dies für die Ehe: In der Familie ist die Treue der Eltern, die niemals in Frage gestellte Festigkeit ihrer Beziehung wesentliche Voraussetzung für das Geborgenheits-Gefühl und die gesunde Persönlichkeitsentwicklung der Kinder, denn Vater und Mutter gehören zu ihrer Identität. Jeder größere Streit zwischen ihnen bringt die Kinder in Bedrängnis und ihre Trennung hat immer Folgen für die Kinder.

Dass es in einer Beziehung zu einer klaren und definitiven Entscheidung kommt, ist für die Entwicklung der Liebe selbst von großer Bedeutung. Wenn sich ein Paar (oder jemand, der einen geistlichen Weg im Sinne des Zölibates gehen möchte) nicht zu dieser endgültigen Entscheidung durchringen kann, bleibt die Entwicklung stehen bzw. kommt es meist zur Verkümmerung.

Sehr wichtig ist, dass die Entscheidung für Gott (geistlicher Weg), füreinander (Ehe)
frei ist: das setzt die nötige Kenntnis (der Person bzw. der Hingabe, die man leben möchte) und den freien Willen voraus. Nur unter dieser Voraussetzung kann eine wahre Hingabe entstehen.

Man unterscheidet gewöhnlich unter anderem die
begehrende von der hingebenden Liebe. Manche protestantische Autoren (vor allem Nygren, aber auch Karl Barth) meinten gestützt auf die Heilige Schrift fordern zu müssen, dass eine christliche Liebe absolut selbstlos und daher von jedem ichhaften Begehren frei sein müsse, was nicht wenig zur Diskreditierung der christlichen Auffassung von Liebe beigetragen hat. Es gibt jedenfalls auch ein gutes Begehren, das Gott in das Herz des Menschen gelegt hat, das oft Ansatz zum Höheren ist. Die Erfahrung, geliebt zu werden, ist für jeden Menschen grundlegend. Liebe macht den Menschen neu, belebt, verändert ihn. Sie kann sogar heilen. Oft ist sie das beste, manchmal das einzig wirksame Heilmittel.

Bekannt sind die Untersuchungen von René Spitz, der einerseits Kinder beobachtet hat, die im Gefängnis geboren und dort, also unter nicht komfortablen äußeren Bedingungen, von ihren inhaftierten Müttern aufgezogen wurden, und andererseits Kinder, die ohne ihre Mutter, aber in sorgfältig ausgestatteten, hygienisch einwandfreien amerikanischen Säuglings- und Kleinkinderheimen von vorzüglich geschulten Pflegerinnen betreut wurden. Das Resultat des Vergleichs ist im Grunde genommen gar nicht verwunderlich: die im Gefängnis geborenen Kinder waren – in Bezug auf Krank-Werden, Sterblichkeit, Neuroseanfälligkeit – bei weitem besser daran. Nicht, als hätten jene Pflegerinnen das ihnen Aufgetragene etwa bloß routinemäßig und mit „kalter Sachlichkeit“ erledigt! Nein, es ist eben nicht genug, sich satt essen zu können, nicht zu frieren, ein Dach über dem Kopf zu haben und alles, was sonst noch für die Lebenserhaltung physisch notwendig ist. An all dem fehlte es den Heimkindern ja keineswegs. Erich Fromm brachte es mit einem Gleichnis zum Ausdruck. Er sagte in seinem Buch „Die Kunst zu lieben“, man brauche nicht nur Milch, sondern auch Honig. Mit Milch meinte er all das, was zur Stillung der bloß leiblichen Bedürfnisse nötig ist. Auch Liebe ist nötig, Zuwendung, die Aussage: „Wie gut, dass es dich gibt!“ Das symbolisierte er mit Honig.

Um zu den Arten der Liebe zurückzukehren: Immer wurde auch gerne von der Freundesliebe (amor amicitiae) gesprochen. Bei der
Freundesliebe spielen Ähnlichkeit und Gegensätzlichkeit, das Anderssein eine Rolle. Beides kann Sympathie, Freundschaft, Liebe auslösen, dazu führen, dass der andere als „gut“, „schön“, „besonders“, „einmalig“ betrachtet wird. Die „große“ Liebe lässt den anderen immer als unaustauschbar, als Kostbarkeit, als Juwel erkennen. Daraus ergibt sich: wahre menschliche Liebe ist Person-Bezognen: der andere ist tatsächlich einmalig, unaustauschbar (das sind nicht nur schöne Worte). Er bleibt es, auch wenn Schönheit vergänglich ist, die Wechselfälle des Lebens starke Veränderungen mit sich bringen. Auch ein kranker, vielleicht verstümmelter Mensch kann schön sein, schön bleiben (auch unabhängig davon, ob er/sie von einem anderen Menschen geliebt wird).

Mit der Freundesliebe verwandt ist die
Liebe des Wohlwollens (amor benevolentiae). Gemeint ist dabei nicht nur Wohlwollen im Sinne, dass man dem anderen gegenüber positiv eingestellt ist. Amor benevolentiae bedeutet, dass man für den anderen das Beste möchte. Das kann dazu führen, dass man manchmal wegen der Verhaltensweise des Freundes besorgt, bekümmert, traurig, vielleicht sogar erzürnt sein kann.

Eine besondere Bedeutung kommt der
ehelichen Liebe zu. Sie hat spezifische Zielsetzungen und Merkmale. Über sie will ich heute nicht im Konkreten, sondern nur im Allgemeinen reden.

Der biblische Befund

Der biblische Befund ergibt, dass Gottes Wesen die Liebe ist, dass Gott aus Liebe die Welt und als Krönung der Schöpfung den Menschen erschaffen hat, als sein Bild und Gleichnis. Und zwar ist der Mensch als Mann und Frau erschaffen worden und zur Liebe bestimmt. Die Entwicklung und Reifung der Liebe ist das Ziel jedes menschlichen Lebens. Liebe überdauert alles, sie ist stärker als der Tod. Wenn der Mensch dieses Ziel erreicht, wird er ewig leben.

Die Berufung zur Liebe ist im Herzen jedes einzelnen Menschen tief verankert; für jeden Menschen ist es existentiell grundlegend, dass die Liebe von Anfang an in ihm geweckt wird. Das geschieht zuerst durch die Mutter (schon beim Erwarten des Kindes), auch durch den Vater, von ihm zunächst nur indirekt (auch er erwartet das Kind über die Mutter und zusammen mit ihr), dann auch direkt, später spielen die Geschwister und Freunde für die Entfaltung der Liebe eine Rolle, besonders wichtig sind der Ehepartner, aber auch Töchter und Söhne (deren Freunde und Kinder). Von der Erfahrung, geliebt und zur Liebe fähig zu sein, hängen die Gesamtentwicklung der Persönlichkeit und der ganze Lebensweg ab. Damit verbunden sind die tiefsten Sehnsüchte, die wir alle in unseren Herzen tragen, ebenso Glück wie Unglück, manchmal auch sehr tiefe Wunden und Verletzungen.

Durch Christus wurde uns geoffenbart, dass es neben der Ehe als Weg zur Entfaltung der Liebe und zur Erreichung des Lebenszieles auch den Weg der Ehelosigkeit um des Himmelsreiches willen gibt, also eine zweite Art, der Berufung zur Liebe zu entsprechen.

In beiden Fällen handelt es sich um eine Berufung zur Liebe. Der Gründer des Opus Dei, der sel. Josefmaria Escrivá, sagte manchmal, die Berufung zum apostolischen Zölibat sei die Berufung zu einer Liebe mit Großbuchstaben, die ebenfalls – wie in der Ehe – eine Antwort mit ganzem Herzen fordert. Die zölibatär Lebenden pflegte er genauso wie die Eheleute zu einer großen, spürbaren Liebe anzuhalten. „Habt keine Angst zu lieben; die anderen sollen es merken, dass ihr sie liebt“, wiederholte er gerne.

Es handelt sich also auf beiden Wegen der Liebe um eine ganzheitliche Antwort mit Seele und Leib, wie es dem Wesen des Menschen entspricht.

Die eheliche Liebe führt freilich im Unterschied zur zölibatären Liebe als wichtigem und wesentlichem Ausdruck dieser Liebe zur geschlechtlichen Ganzhingabe ohne Vorbehalt, mit der Bereitschaft bzw. dem Wunsch, Kindern das Leben zu geben und sie als Geschenk Gottes zu empfangen, um sie mit viel Liebe zum Leben und zur Liebe zu befähigen.

Auch zölibatäres Leben ist von seinem inneren Wesen als Berufung zur Liebe nicht nur auf Gott allein, sondern auch auf andere Menschen bezogen. Dieser Weg wird gewählt, um Gott zu dienen, aber auch anderen auf dem Weg des Lebens und der Liebe beizustehen. Niemand ist nur persönlich, sozusagen zur eigenen Vervollkommnung berufen. Das gilt auch für streng beschauliche Berufungen: Theresia von Avila macht ihren Schwestern im Weg der Vollkommenheit mit aller Klarheit deutlich, dass die Nächstenliebe unerlässlicher Prüfstein der Gottesliebe ist. Das führt zur Bemühung um die anderen Mitglieder der Gemeinschaft, vor allem zum missionarischen Geist, zur Sorge um die weite Welt. Der Verzicht auf Ehe geschieht, um ungeteilten Herzens für Gott und für viele da zu sein.

Die Bedeutung der Erbsünde und der persönlichen Sünden

Nun aber ist zu bedenken: Durch den Sündenfall hat der Mensch die Klarheit des Blickes und die Reinheit des Herzens verloren. „Sie erkannten, dass sie nackt waren“ (Gen 3, 7), heißt es in der Genesis nach der Beschreibung des Sündenfalles. Es kommt zur Störung der Beziehung zu Gott und der zwischenmenschlichen Beziehungen. Kain wird neidisch und tötet Abel. Es entsteht die Verkettung des Bösen und die Perversion der Liebe. Sie bleibt bei den durch die Sünde geschwächten und in den Fesseln des Todes verhafteten Menschen sehr leicht an billigen Gütern hängen: am Materiellen, am Sinnlichen, an der eigenen Hoffart und Bequemlichkeit und vielem anderen mehr. Vor allem kommt es zum Egozentrismus, der sich in vielen Spielarten entwickelt, und in eine Sackgasse mit allmählich stärker werdender Isolierung und Vereinsamung führt. Das wahre Gut wird nicht mehr erkannt, jedenfalls nicht mit der nötigen Klarheit, der Wunsch, es zu besitzen, lässt nach. Die Liebe ist schwach geworden, oft verkümmert, blockiert, in eine falsche Richtung entwickelt.

Aus den fehlgeleiteten Sehnsüchten, die an sich nach dem Großen, Schönen, Guten, nach Gott verlangen, entstehen Süchte aller Art: Trunksucht, Ehrsucht, Geldgier, sexuelle Befriedigungssucht, Streitsucht. Es kommt zum Bruch mit Gott, zur Störung der Beziehung mit den anderen und zu einem tiefen inneren Zwiespalt. Im Konzilsdokument „Kirche und Welt“ wird es so beschrieben: „Obwohl sie Gott erkannten, haben sie ihn nicht als Gott verherrlicht, sondern ihr unverständiges Herz wurde verfinstert, und sie dienten den Geschöpfen statt dem Schöpfer (vgl. Röm 1, 21–25). Was uns aus der Offenbarung Gottes bekannt ist, steht mit der Erfahrung im Einklang: Der Mensch erfährt sich, wenn er in sein Herz schaut, auch zum Bösen geneigt und verstrickt in vielfältige Übel, die nicht von seinem guten Schöpfer her kommen können. Oft weigert er sich, Gott als seinen Ursprung anzuerkennen; er durchbricht dadurch auch die geschuldete Ausrichtung auf sein letztes Ziel, zugleich aber auch seine ganze Ordnung hinsichtlich seiner selbst, wie hinsichtlich der anderen Menschen und der ganzen Schöpfung. So ist der Mensch in sich zwiespältig. Deshalb stellt sich das ganze Leben der Menschen, das einzelne wie das kollektive, als Kampf dar, und zwar als ein dramatischer zwischen Gut und Böse, zwischen Licht und Finsternis. Ja, der Mensch findet sich unfähig, durch sich selbst die Angriffe des Bösen wirksam zu bekämpfen, sodass ein jeder sich wie in Ketten gefesselt fühlt“ (GS 13). Der Mensch hat durch sein falsches Verhalten den Weg der Liebe verloren: er ist geschwächt in Erkenntnis und Willen, blockiert und behindert durch vielfältige Verletzungen und ungeordnete Neigungen. Im Konzilstext heißt es im Anschluss an die vorher zitierte Stelle: „Der Herr selbst aber ist gekommen, um den Menschen zu befreien und zu stärken“.

Bedeutung des Glaubens für den Weg der Liebe

Gott hat im Verlaufe der Menschheitsgeschichte nie aufgehört, alles zu unternehmen, um den Menschen zu retten: er hat die Patriarchen erweckt und Propheten gesandt. Das Volk Gottes musste die Wüste durchqueren, und als die Fülle der Zeit gekommen war, sandte er seinen Sohn.

Christus bringt die tiefste Offenbarung dessen, was Liebe ist.

Wir werden nie ganz begreifen, was es bedeutet, dass Gott klein wird, Knechts-Gestalt annimmt und zu lieben anfängt wie der Mensch liebt: mit einem Herzen aus Fleisch und Blut, spürbar und erfahrbar für uns, die wir zwar Augen haben und Ohren, aber im Herzen blind und taub sind. Durch IHN öffnet sich ein Weg.

Wir werden auch nie begreifen, was es bedeutet, dass er nach dreißig Jahren des Lebens in Verborgenheit – uns in allem gleich, außer in der Sünde – die Wahrheit verkündet, aber „das geknickte Rohr nicht zerbricht und den glimmenden Docht nicht auslöscht“ (Jes 42, 3). Christus wendet keine Gewalt an, um die Wahrheit durchzusetzen, obwohl er die Möglichkeit, die Macht dazu hätte. „Er bringt wirklich das Recht“, heißt es ebenda. Er wirkt, er leidet, er stirbt in Liebe zu seinem Vater und in Liebe zu den Menschen. Christus geht bis zur letzten Konsequenz: Er ist treu zur Wahrheit, absolut treu zum Vater und seiner Liebe. Er ist zugleich ganz treu zu den Menschen. Er tut es für sie, das heißt auch an ihrer Stelle: er ist gehorsam für sie, die ungehorsam sind, leistet Sühne für sie, die Gott beleidigt haben und weiter beleidigen. Er springt mit seiner Liebe ein, wie gute Eltern es tun, wenn der Sohn oder die Tochter allerlei anstellen und sie dafür gerade stehen. „Es gibt keine größere Liebe als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt“ (Joh 5, 13), vertraut Jesus seinen Jüngern an.

„Durch seine Wunden sind wir geheilt“ (Jes 53, 5), heißt es beim Propheten: Liebe heilt, Liebe verwandelt, Liebe macht neu. Wir wissen das auch aus eigener Erfahrung. Darin bestand wohl im Wesentlichen das Geheimnis der großen Wirksamkeit der Erziehungsmethode des Don Bosco, die er wohl von Gott abgeschaut hat. Gott verwendet jedenfalls diese Methode. Durch den Glauben an Christus öffnet sich ein Weg, um von neuem Lieben zu lernen:

- er zeigt die Unendlichkeit der Liebe Gottes: durch seine Geburt aus der Jungfrau Maria, durch Liebe und Geduld, mit der er die Wahrheit verkündet, durch sein Leiden und Sterben am Kreuz, durch die Eucharistie.

Reifung und Wachstum

Es ist auch wichtig, sich dessen bewusst zu sein, dass jede Liebe der Entfaltung, Läuterung, Reifung bedarf. Das gilt sowohl für die eheliche Liebe als auch für die Liebe eines zölibatären, ganzheitlich im Dienste des Reiches Gottes Stehenden.

Liebe entwickelt sich durch die Anziehungskraft dessen, was als gut, schön, kostbar, wertvoll erkannt wird. In der Beziehung zwischen Mann und Frau entsteht zunächst Verliebtheit, auf einem geistlichen Weg Begeisterung. Man ist begeistert von bestimmten Idealen, den ersten geistlichen Erfahrungen, dem Vorbild eines Priesters oder anderer Personen. In diesen ersten Schritten der Liebe stehen Sympathie, menschliche Motive, das Beglückt-Sein wegen der Begeisterung, wegen der Verliebtheit im Vordergrund. Das darf auch so sein, auch wenn das noch keine sicheren Anzeichen einer wahren Liebe sind. Es sind höchstens Vorboten. Für die Entfaltung wahrer Liebe ist ein längerer Reifungsprozess notwendig: manche Haltungen müssen eingeübt, Wege miteinander gefunden, Schwierigkeiten ausgesprochen und miteinander gelöst, die Motive neu begründet werden. Ein christliches Ehepaar beginnt, sich und die Kinder immer mehr „auch“ wegen Gott, wegen Christus zu lieben. Das „versachlicht“ nicht ihre Liebe, sondern gibt ihr eine größere Stabilität und Tiefe. Ihr „Schwerpunkt“ wird verlagert. Ähnliches gilt auch für einen geistlichen Weg: auch auf diesem Weg bedarf es einer Läuterung der Motive, einer Verstärkung des Realitätsbezuges. Vor allem muss Christus selbst immer mehr zum Tragenden, Führenden werden. Der eigene Verstand und der eigene Wille werden erleuchtet, aber auch ihre Grenzen werden klarer erkannt.

Bald wird die Berufung erprobt, kleinere und größere Krisen müssen bewältigt und oft muss das Ja zum anderen oder zum geistlichen Weg, zur Berufung erneuert werden. Christus wird dabei immer von neuem als Weg, als der Weg entdeckt, das Gebet wird als Hilfe erprobt, die Sakramente werden als Quelle, der Heilige Geist als Führer erfahren. Und immer ist konkretes, persönliches Bemühen nötig, oft auch der Vorgang der Vergebung und des Neuanfanges. Die Eigenschaften und Früchte der Gottesliebe bzw. ihre Vorboten werden nach und nach empfangen: eine wachsende Sehnsucht, fester zu werden, besser verwurzelt, ein Verlangen nach Verbundenheit mit Gott, ein Weiterwerden des Herzens und die Befähigung zu größerer Liebe und schnellerer Vergebung.

Es ist ein großes Anliegen heute und immer: Berufungen wecken, den Menschen auf dem Weg der Liebe beistehen, ihnen bewusst machen, dass Gott sie liebt und dass sie mit der Hilfe Christi fähig sind zur Liebe. Die „Initiative Hauskirche“ sollte in diesem Sinne eine konkrete Hilfe für Eheleute und ihre Familien sein, aber auch zölibatär Lebende sind angesprochen, auch sie können vieles lernen und manches lehren.

Christus ist das Alpha und Omega der Liebe, er senkt das Samenkorn seiner Liebe,
der wahren Gottesliebe zwischen Vater und Sohn und Heiligem Geist in unsere Herzen;
bei jedem von uns muss dieses Samenkorn keimen, kräftig werden und reifen,
alle müssen wir uns aber gegenseitig beistehen.