Bindungsfähigkeit im Lichte der Berufung
(Teil 2)
Ehepaar Dr. Jean und Anouk Meyer,
Paris
Es
wird Zeit, dass wir unsere Überlegung wieder aufnehmen. Wir sind vorhin zum
Wesentlichen vorgedrungen, um die Größe unseres Reichtums zu erkennen: unser
"ja" das unser Alltagsleben trägt und erleuchtet. Dieses Ja ist der
Ursprung des Bandes, das uns verbindet, und ihm ist es zu verdanken, dass
unsere Liebe haltbar werden kann. Durch dieses Ja kann auch das Kind
wesentliche Realitäten entdecken. Dennoch bin ich mir natürlich voll bewusst,
dass dies nicht automatisch so ist und dass leider viele Menschen so leben, als
hätten sie nie davon gehört.
Und
deshalb bevor ich diese Analyse entwickle, gestatten sie mir , eine Anekdote zu
erzählen, die mehr zeigt als die Theorie, die außerordentliche Vieldeutigkeit
der Wörter und das Gewicht des Schmerzes, das diese Vieldeutigkeit in sich
trägt. Vor einigen Jahren schickte ich mich an die U-Bahn zu nehmen und indem
ich die Treppen hinunter stieg, traf ich eine Frau, für die der Kinderwagen zu
schwer war. Ich half ihr dabei, den Kinderwagen, in dem das Kind schlief,
hinunter zu bringen. Etwas später auf dem Bahnsteig begann sie schüchtern zu
sprechen: "Sehen Sie das Kind " sagte sie zu mir .
Den Vater kenne ich kaum. Wir haben uns eine Nacht geliebt, und dann ist er
weggegangen. Eine kurze Geschichte aber voller Sinn. Wo ist die Liebe? Man weiß
es nicht, oder man versteht darunter zu viel Verschiedenes, wie das Wort
Situationen oder Gefühle verschiedene Haltungen oder sogar Entgegengesetzte
Haltungen versteckt.
Deshalb muss man erklären, was bei der Bindung zwischen Eltern und Kindern auf
dem Spiel steht und bis wohin ihre pädagogische Tragweite reicht. Ich möchte
hinzufügen, dass diese Beziehung Eltern/Kinder sich auch anderen Adressaten
öffnen muss- ich denke hier besonders an die Großeltern.
Folgen
wir jetzt dem Sinn der Geschichte und ziehen daraus, wie ich hoffe, einige
Lehren.
Neun Monate lang bereitet man sich davor. Eltern und Geschwister warten ab.
Etwas wird erfahren , was gewissermaßen mit dem
Mysterium des Advents vergleichbar ist. Hinter dem sich wölbenden Leib wächst
eine Welt auf, die größer ist als unser kleiner Planet. Um unsere Erde, kommt
man schnell herum. Wie viel Zeit ist dagegen nötig, um das Geheimnis zu durchleuchten,
das die Tränen und das Lächeln eines Kindes umhüllt. Die Fruchtbarkeit eines
Paares ist eine wunderschöne und zugleich geheimnisvolle Realität. Sie lässt
sich nicht an der Zahl der Kinder messen . Man darf
Fertilität und Fruchtbarkeit nicht miteinander verwechseln. Jene ist ein
Zustand des Körpers, diese eine Eigenschaft der Liebe. Nur das Abgeschnittensein vom Leben macht die Liebe unfruchtbar.
Hier werden wir diese Einheit von Fruchtbarkeit und Fertilität ins Auge fassen,
die gewöhnlich in der Familie und im Rahmen der Kindererziehung erlebt wird.
Paradoxerweise
sind die Kinder unser Reichtum, weil sie von uns Zeit, Anstrengungen und Geld
fordern, aber gerade weil sie von uns viel fordern, offenbaren sie uns den
wahren Reichtum, das heißt die Fähigkeit zum Geben und Sich hingeben. Das Kind
muss erzogen werden, aber paradoxerweise wird gerade es unser Erzieher werden.
Es ist nämlich der Träger zahlreicher Botschaften. Indem wir ihm aufmerksam
zuhören, werden wir entdecken, dass das Kind ein Prophet ist; es kann uns den
Sinn des Lebens, der Liebe, der Zeit und des Todes offenbaren .Es kann uns
zeigen, dass obgleich wir die Eltern sind, wir grundsätzlich die Geschwister
unserer Kinder sind. Kurz, unsere Kinder sind für uns Meister. Es liegt auf der
Hand, dass die Erziehung durch die Eltern große Anforderungen stellt, denn wir
erziehen mit unserer ganzen Person, mit unsere Seele, unserem Herzen und
unserem Leib. Und nur so kann eine erzieherische Bindung entstehen, die
zugleich affektiv und geistlich ist. Durch ihre ganze Person lehren sie deshalb , weil sie durch ihre ganze Person lernen. Vom
anthropologischen Standpunkt aus ist das Kind weder Schöpfer noch Tier. Es ist
ein Wesen der" Mimesis", ein nachahmendes Wesen. Mit Hilfe seines
ganzen Körpers nähert es sich immer mehr dem Verstand. In sich empfängt es die
Realität und gibt sie durch sein Spiel wieder. Auf diese Weise wird ihm eine
Erfahrung der Welt zuteil. Die Kinder ahmen nach, dass
heißt, sie werden eins, mit all dem was sie sehen und hören. Ich füge hinzu,
dass diese Nachahmung sich durch den ganzen Körper verwirklicht .Ich hatte das
zwar in den Büchern gelesen, aber erst das Leben hat es mir beigebracht.
Als ich eines Abends nach Hause kam und die Treppe des Hauses hinaufging, hörte
ich gellendes Gelächter, das aus dem Haus kam. Die Kinder aßen zu Abend. Als
ich die Stufen weiter hinaufging, fragte ich mich nach dem Grund ihrer
Heiterkeit. In der Küche wurde mein Verdacht bestätigt: unser fünfjähriger
Sohn, der auf einen Hocker gestiegen war, hatte ein Buch genommen und gab eine
philosophische Vorlesung vor seinen entzückten Geschwistern, indem er seltsame
Ausdrücke benutzte, die er aus dem Mund seines Vaters gehört hatte. Dies gab
mir übrigens einen kleinen Stich, weil nicht nur die Kinder lachten, sondern
auch ihre Mutter in das Lachen einstimmte! Indem es seinen Vater nachahmte,
versuchte dieses Kind, derjenige zu sein, den man so schwer kennt: sich selbst.
Die Kinder können nicht anderes tun als uns nachzuahmen.
Sie erinnern sich sicher, dass ich in meinem ersten Vortrag dass Beispiel
erzählt habe, dass unsere älteste Tochter uns immer bis sehr spät am Abend wach
gehalten hat und wie meine Frau dadurch neu die Liebe ihrer eigenen Mutter
entdeckt hat. Aber was wir von den Kindern lernen, geht noch viel weiter.
Das Kind bringt uns noch etwas über unseren Ursprung in Erinnerung, indem es
uns zeigt, dass das Geschenk des Lebens der Liebe anvertraut ist und es
überhaupt erst verständlich macht. Ohne das Geschenk des Lebens wird das Leben
unbegreiflich. Nicht zufällig wächst heute bei vielen das Gefühl der
Sinnlosigkeit. Da sie nicht mehr Leben schenken wollen, bleibt ihnen der Sinn
des Lebens in seinem tiefsten Wesen verschlossen; denn das Leben ist ein
Geschenk. Sie verstehen sich selbst nicht mehr als das Ergebnis dieser Hingabe:
Sie sind überflüssig. (In der Tat ist in dieser Perspektive jede Person
überflüssig). Ein französischer Dichter sagte: "Nur ein einziges Wesen
fehlt und alles ist entvölkert". Ich glaube , man
muss jetzt sagen: ein einziges Wesen fehlt, das Kind, und alles ist
übervölkert.
Nur auf diese Weise könnte man erklären dass die Länder, die die wenigsten
Kinder haben, seltsamerweise diejenigen sind, wo am meisten von Überbevölkerung
gesprochen wird.
Von da aus sehen Sie vielleicht jetzt den ganzen anthropologischen Reichtum der
erzieherischen Beziehung: Eltern/ Kinder, die den Sinn der Person, die
Liebesbegegnung, und die Hingabe betont.
Man muss dies vielleicht mit besonderem Nachdruck betonen. Denn das Kind wird
oft und eigentlich grundsätzlich dargestellt als Gefahr oder Störenfried für
seine Eltern. Es ist ja auch tatsächlich nicht immer einfach, einem
Neuankömmling seinen Platz einzuräumen und das bringt auch oft ein gewisses maß an Opfern mit sich. Aber es scheint mir unerlässlich zu
betonen, dass die Eheleute dank des Kindes zum Bewusstsein der Tiefe ihrer
eigenen ehelichen Beziehung gelangen können. Aber das wird oft nicht genügend
ins Licht gestellt Das Kind enthüllt den Eltern den höchsten Sinn ihrer
Liebe-nämlich sich zu zweit der Gemeinschaft hinzugeben- und verlangt von
ihnen, dass sie es tun. Mit einem Wort, es verlangt von ihnen, dass sie
verantwortlich werden.
Es wird oft gesagt, die Liebe sei die beste Erzieherin, und dies ist kaum zu
leugnen.
Indem
sie einander lieben, werden Mann und Frau entdecken, was sie eigentlich sind
und einander dieselbe Erfahrung ermöglichen. "Sag mir, dass du mich
liebst", sagen die Liebenden "und ich werde dir in treuer Liebe
offenbaren, wer du bist". Aber diese Offenbarung enthält eine
überströmende Fruchtbarkeit. Als Paar können sich Mann und Frau einem anderen
Leben, nämlich dem des Kindes erschließen. In Liebe gezeugt kann das Kind jetzt
überhaupt erst das Wesentliche entdecken, nicht das "ich denke, also bin
ich" von Descartes, sondern vielmehr das "sie lieben sich , also bin ich." Für mich ist die zweite Formel
alles in allem tief greifender als die erstere, die sich nur damit begnügte,
-und zwar nicht ohne Zweideutigkeit-, das Sein und das Denken miteinander zu
verknüpfen. Indem es seinen Ursprung entdeckt, kann das Kind ahnen, dass das
Sein im Geheimnis der Liebe steckt. Es kann auch weiterforschen, und sich
fragen: " Warum lieben sie einander?" Jedoch ist eine Antwort darauf
einfach und trotzdem geheimnisvoll: weil er es ist, weil sie es ist, Kurz weil
sie es wert sind, geliebt zu werden. In dieser Gemeinschaft, als welche die
Familie betrachtet werden kann , wird das Kind
einsehen, dass jeder Person Liebe gebührt. Hier ist ein Mensch, der , indem er sich geliebt weiß, sich auch als der Liebe
wert fühlt und dass er dem Geheimnis, das seinem Wesen zugrunde liegt vertrauen
kann.
Sie verstehen also, meine Damen und Herren, dass diese Entdeckung des Seins,
des Lebens und diejenige des Seins der Liebe gleichzeitig stattfinden. Jedoch bereichern
uns die Kinder noch mehr, insofern sie uns den Sinn der Zeit erläutern.
Vor einigen Jahren gingen wir an jedem Wochenende zu einer alten 95-jährigen
Tante. Sobald sie sie erblickte lief eine unserer Töchter auf sie zu, um sie zu
küssen. Und da rief sie mit innigster Zuneigung aus "Aber, du bist noch
nicht tot!" Für dieses Kind ließ sich das Rätsel des Lebens und des Todes
an dem so geliebten Antlitz seiner alten Tante ablesen. In der Familie braucht
das Kind die Anwesenheit alter Menschen.
Zwischen
ihnen besteht ein geheimnis- und harmonievolles Einverständnis
, das uns Erwachsenen eine sehr wichtige Lehre vermittelt. Es ist wohlbekannt , dass jede Person nach dem ihr eigenen Tempo
lebt, das alle ihre Taten begleitet. Doch das Lebenstempo der Erwachsenen
entspricht nicht demjenigen des Kindes . Wir
Erwachsene gehen schneller. Bedenken wir dagegen, dass der Schritt eines alten
Menschen viel mehr mit dem des Kindes im Einklang steht. Ich habe die
Gelegenheit gehabt , dies in Paris festzustellen: am Morgen
begleiten die Eltern die Kinder zur Schule. Das zu sehen ist überhaupt
lehrreich. Die Eltern gehen und die Kinder laufen nebenher. Manchmal holen am
Abend die Großeltern die Kinder von der Schule ab, und es fällt einem schwer
herauszufinden, ob die Großmutter es ist, die als erstere daherzutrippeln
angefangen hat oder das Kind. Es gibt bei Erwachsenen ,
- das kann man wohl einsehen- ein Zeiterlebnis, ein Tempo des Lebens, das
demjenigen der Kinder nicht ähnlich ist. Der Erwachsene macht Pläne, und dadurch
beherrscht er die Zeit. Nur mit alten Menschen kann das Kind eine Erfahrung der
Zeit gewinnen, die mehr von Genuss und von einer bescheidenen Haltung gegenüber
der vergehenden Zeit geprägt ist und das sei jedem beherrschenden Handeln
Grenzen auferlegt.
Durch diese Überlegungen sehen Sie also etwas wie eine Logik der Liebe
auftauchen, die die ganze Familie bereichert. Es ist als stellten das Kind und
der alte Mensch den Erwachsenen vor seine eigene Verantwortung, als würden sie
ihm das sei den Sinn seines Lebens verständlich machen.
Erwachsen
sein heißt überhaupt sich in einem Lebensalter befinden, in welchem man
denjenigen ganz zur Verfügung steht, die man liebt, nämlich den Jüngsten und
den Ältesten.
Dennoch geht die aus der Kindheit gewonnene Lehre noch tiefer und macht es
möglich, den eigentlichen Sinn der Autorität in der Familie zu entdecken. Als
wir vor einigen Jahren, im Ferien waren, beobachtete unser ältester Sohn wie
seine Großmutter, ihren Haushalt führte Denn nahm er ihre Hand und, nachdem er
zu mir, ihrem Sohn geführt hatte, stellte er die folgende sehr einfache
Frage:" Sag mal, Großmutter, wer hat hier die Führung?" "Also ,ich", antwortete die Großmutter, "mir müssen
die Kinder gehorchen". "Aber", fährt mein Sohn fort, "mein
Papa, der ist doch dein Sohn, nicht wahr ?"
"Allerdings", antwortete meine Mutter, die die Gefahr schon zu spüren
begann". Darauf das Kind:," Warum gibst du
deinem Sohn dann nicht den Befehl, mir keine Befehle mehr zu geben?"
Diese- durchaus subversive - Schlussfolgerung enthält eine sehr treffende
Intuition.
Die
mit der Vaterschaft verbundene Autorität wird nur auf Zeit ausgeübt und weil
man den anderen zur Verfügung steht. Es zeugt von einem gesunden Seelenzustand,
wenn ein Kind begreift, dass diese zwar nicht zu bezweifelnde Autorität
übertragbar ist. Wenn eines Tages das Kind Großsein
wird, wird es diese Autorität ausüben können und müssen. Dank der Großeltern
ist die Autorität an den ihr gebührenden Platz
gestellt. Die Männer können nur deshalb Väter sein, weil sie auch Söhne gewesen
sind. Wir geben alles weiter, was wir bekommen haben, was nichts anderes
bedeutet als dass wir nicht die Schöpfer unserer Kinder sind. Der wunderbare
Reichtum der menschlichen Vaterschaft besteht darin, dass sie eine göttliche
Leihgabe ist; da wir in einem Zustand gegenseitiger Hilfsbereitschaft stehen
und dank des Kindes sind wir imstande, den tiefen Sinn der Brüderlichkeit zu
entdecken. Dies kommt besonders im Familiengebet zum Ausdruck; dass wir alle
hier vor Gott Kinder sind, ist offensichtlich. Auf sehr konkrete Weise bringt
jedes Kind der Familie seine Stärke und seine Schwäche. So müssen alle Kinder-
und dies erfolgt nicht ohne Mühe- die Brüderlichkeit experimentieren und uns
dazu zwingen was die Vaterschaft betrifft das gleiche zu tun
. Nur einen Aspekt dieses Problems will ich hier hervorheben. Jedes Kind
beansprucht für sich die ganze Liebe seiner Eltern, und das fordert die Logik
heraus, da wir jedem Kind sagen müssen:
"Du
bist der allerliebste."
Es
kommt also darauf an, jedem Kind verständlich zu machen, dass es ganz
einzigartig ist und es also verdient, genauso wie die anderen geliebt zu
werden. Dieses Paradox enthält ein Erziehungsprinzip, insofern es jeden davor
hindert, auf seinen Bruder eifersüchtig zu sein und ihn dazu führt, sich dem
Geheimnis der Liebe hinzugeben, die alle Gesetze der Arithmetik übertrifft.
Die Zahl der Kinder hat keine Aufteilung der elterlichen Liebe unter den
Geschwistern zur Folge. Jedes Kind macht das Herz seiner Eltern größer und
genießt oder vielmehr muss das Ganze ihrer Liebe genießen.
Ich möchte noch eine Überlegung hinzufügen, die die Brüderlichkeit im Familieleben betrifft.
Ich
halte die Brüderlichkeit für die Hüterin der echten Freiheit und der
Gleichheit.
Sie bewahrt diese beiden Werte davor, in Ideologie auszuarten.
Im
Rahmen der Familie frei sein heißt die Möglichkeit haben, Initiativen zu
ergreifen, was jeder mit seinem eigenem Genie, tun kann. Durch solche
Initiativen kann sich die Freiheit eines jeden, die der Freiheit der anderen
ebenbürtig ist, der Gemeinschaft zur Verfügung stellen. So wird das Glück der
Familie zum persönlichen Glück jedes seiner Mitglieder. Es ist von äußerster
Bedeutung, dass wir Eltern uns nicht als den ursprünglichen Ausgangspunkt
unserer Kinder betrachten. Gegenüber dem unseren liegt ihr eigener Ursprung
noch weiter zurück. Dank der in der Familie lebenden Großeltern, wird
offensichtlich, dass die menschliche Liebe zugleich Überlieferung und
Weitergabe ist. Dank des Kindes, dank jedes Kindes sind wir in der Lage,
nachzudenken und jenseits unserer eigenen Vergangenheit den Weg zur Quelle
unseres Daseins zurückzugehen. Die in der Familie erlebte Liebe führt uns über
die menschlichen Personen hinaus bis ins Herz der Heiligen Dreifaltigkeit.