Familienpolitik in Europa – Denkmuster, Denkfehler, Maßnahmen

Jürgen Liminski , Dipl.info. Dipl.pol.

Referat am 14. April am Sonntagberg im Rahmen der Tagung "Kinder sind ein Segen":

Einführung
Das soziale Umfeld und die Denkfehler in Europa
Maßnahmen
Kreative Kraft der Liebe
Schlussfolgerungen

Liebe Freunde und Mitstreiter, meine Damen, meine Herren,

Danke für die freundliche und herzliche Einführung. Fast so freundlich und herzlich wie die Vorstellung von Knut, dem Eisbär in Berlin, aber eben nur fast, denn das rührselige Drama um den Vierbeiner ist nicht zu stoppen. Am vergangenen Osterwochenende haben mehr als 150.000 Menschen Knut im Zoo besucht. Es ist ein Phänomen. In der Stadt der meisten Abtreibungen in Deutschland, in absoluten Zahlen sowieso aber auch nach Prozenten, in Berlin also, wird derzeit ein Stück aufgeführt, das vor dem Hintergrund der Kinderfeindlichkeit, die in Deutschlands Hauptstadt zum politischen Alltag gehört, schon erstaunlich ist. Sicher, der Bär ist das Wahrzeichen der Stadt, aber zum einen ist es ein Braunbär und zum anderen kein Bärenbaby. Man darf sich die Frage stellen, ob dieses Massenphänomen mit Knut-Besuchern, Knut-Teeshirts, Knut-Songs, Knut-Videos und dergleichen mehr nicht andere, tiefere Sehnsüchte widerspiegelt. Aber das ist Spekulation. Freuen wir uns, dass es solche Rührseligkeiten, solche Regungen an Rest-Instinkten von Mütterlichkeit oder Väterlichkeit überhaupt noch gibt. Deutschland, und insbesondere sein östlicher Teil, ist nämlich weitgehend kinderentwöhnt und weiß zwar, dass Kinder viel Geld kosten, aber es weiß nicht mehr, dass Kinder auch Glück und Freude bringen. Ja, Kinder sind ein Segen. Aber weil der Segen immer teurer wird für die Eltern, wird er auch seltener. Nicht nur in Deutschland.

Ich werde nun in den folgenden 45 Minuten versuchen,


erstens: zwei fundamentale Denkfehler in Europa aufzuzeigen, indem wir die geistige Situation und den demographisch-sozialen Wandel, also das Umfeld, in dem die Familien in Europa sich bewegen und bewähren müssen, kurz skizzieren, dann,


zweitens, einige Maßnahmen nennen, mit denen einzelne Staaten versuchen, den demographisch-wirtschaftlichen Niedergang aufzuhalten, und


drittens darlegen, worauf es bei einer vernünftigen Familienpolitik und entsprechenden Reformen ankommt,
um zu dem Ziel zu gelangen, dass die Knut-Fans im Berliner Zoo begeistert: Ein paar Momente des Glücks zu empfinden, aber anstelle des weißen, um nicht zu sagen farblosen Ersatz-Glücks aus dem Zoo geht es bei unserem Thema um das pralle, bunte und auch ewige Leben, das sich hinter dem Begriff des Familienglücks verbirgt. Denn wir können kleine Bären gern haben, lieben können wir sie nicht. Und das ist bei Kindern, bei Personen, anders. Oder, um es mit dem deutschen Frühromantiker Novalis zu sagen:

Kinder sind sichtbar gewordene Liebe.

Erster Teil: Das soziale Umfeld und die Denkfehler in Europa

Die Arbeits-Welt in Europa hat ein System geschaffen, in dem diejenigen am meisten von Kindern profitieren, die selber keine Kinder haben. Das gilt in fiskalischer und, ganz allgemein, in sozio-ökonomischer Hinsicht. Ob diese Menschen auch glücklicher sind, das ist hier nicht das Thema. Wohl aber ist es ein Zukunftsthema, ob wir diesen Zustand der Ungerechtigkeit als schicksalhaft akzeptieren oder ob wir das Schicksal selber in die Hand nehmen wollen. Es ist wahr, wenn der Ökonom und Nobelpreisträger Paul Samuelson sagt:

 „Kinder zu haben ist rein wirtschaftlich gesehen unrentabel und unsinnig“

und es ist auch wahr, wenn rund 150 Jahre vor ihm der deutsche Nationalökonom Friedrich List bemerkt:„Wer Schweine erzieht, ist ein produktives, wer Menschen erzieht ein unproduktives Mitglied der Gesellschaft“. Dieses Unrecht ist sozusagen strukturell, denn die Wirtschaftswissenschaft und Nationalökonomie hat seit ihren Anfängen, also seit Adam Smith die Familie und die Familienarbeit in ihren Berechnungen nicht berücksichtigt. Sie hat sie ins Private abgedrängt, so dass noch heute Familienarbeit, das heißt konkret die Arbeit von Frauen und Müttern zu zwei Dritteln nicht bezahlt wird, während die Arbeit der Männer zu drei Viertel bezahlt wird. Eine Studie der UNO aus dem Jahr 1995 rechnet vor: „Von der Gesamtarbeitslast tragen Frauen mehr als die Hälfte. Von der gesamten Arbeitszeit der Männer entfallen drei Viertel auf bezahlte, auf dem Arbeitsmarkt geleistete Tätigkeiten, während nur ein Drittel der Arbeitszeit von Frauen für bezahlte Aktivitäten aufgewandt wird. Somit erhalten Männer den Löwenanteil an Einkommen und Anerkennung für ihren ökonomischen Beitrag, während der größte Teil der Frauenarbeit unbezahlt, nicht anerkannt und unterbewertet bleibt.“ (Karikatur Sozialamt vier Kinder, alten Vater, Enkel für arbeitende Tochter – also nicht gearbeitet)

Hier ist der erste Denkfehler: Arbeit ist nicht gleich Arbeit.

Oder: Manche gesellschaftlich bedeutsame Arbeit wird anerkannt, manch andere, ebenso bedeutsame dagegen nicht. Logisch ist das nicht. Wenn man davon ausgeht, dass die Familienarbeit ökonomische Arbeit ist, also gesellschaftlich relevant oder sogar unverzichtbar ist, wie wir in diesen Tagen schon gehört haben, dann müsste man sie auch zur Berechnung des Bruttosozialprodukts heranziehen. Das geschieht nicht, wie wir wissen und das ist einer der Gründe, weshalb sie trotz ihrer Unverzichtbarkeit nicht geachtet wird, denn in unserer ökonomisierten Gesellschaft zählt nur, was Geldwert hat. Sie können fast überall in Europa Leistungen der Haus- und Familienarbeit auf dem Markt einkaufen, aber wenn die Hausfrau diese Leistung verrichtet, ist sie gratis und wird als selbstverständlich genommen, obwohl sie meistens noch mit höherem Selbstanspruch und mit mehr Qualität verrichtet wird als die eingekaufte Leistung. Hier haben wir es nicht nur mit einer unterschiedlichen Bewertung, sozusagen mit einer Meinungsfrage zu tun, sondern schlicht mit Unrecht. Es geht auch nicht nur um die monetäre Missachtung, um die Nicht-Anerkennung der Familienarbeit, sofern sie von Müttern geleistet wird. Jede Arbeit produziert auch einen Mehrwert, wie wir wissen.
Bei der Erziehungs- und Familienarbeit ist das Teil des Humanvermögens und dieses Humanvermögen wird von anderen abgeschöpft, denn die erzogenen Kinder sind steuer- und sozialabgabenpflichtige Bürger, denen vom Lohn diese Abgaben direkt einbehalten werden und von diesen Abgaben werden dann die Renten der Kinderlosen bezahlt. Der leider zu früh gestorbene Richter beim Bayerischen Verfassungsgericht, Dieter Suhr drückte es schon 1989 so aus und seine Analyse hat an Aktualität nicht verloren, im Gegenteil, die Lage hat sich für Familien noch verschärft.
Suhr schrieb: „Die Familie wird gesetzlich gezwungen, auf Privatkosten positive externe Effekte bei Kinderlosen zu produzieren……Die kapitalistische Struktur unserer sozio-ökonomischen Welt selbst ist familien- und kinderfeindlich: Kinder kosten ihre Eltern Gegenwartsgeld. Wer sein Gegenwartseinkommen für Kinder ausgibt, ist nicht nur sein Geld los. Außerdem wird er durch entgangene Erträge benachteiligt. Außerdem wird er durch entgangene Erträge benachteiligt. Wer gar Geld für die Ausbildung aufnimmt (zum Beispiel für die neu eingeführten Studiengebühren, A.d.V.), wird mit Zinsen bestraft. Der Kinderlose dagegen erwirbt dank Zins und Zinses-zins mit verhältnismäßig wenig Gegenwartsgeld unverhältnismäßig viel Zukunftsgeld. Und Zukunftsgeld, das sind Ansprüche an die Kinder!“

Man sieht: Das Unrecht gebiert noch größeres Unrecht.

Manchen fällt es schon auf, der Politik leider nicht. Das ifo-Wirtschaftsforschungsinstitut in München spricht in diesem Zusammenhang von der Kinderstrafsteuer, Suhr sprach von einer Einkommensstrafsteuer für die Kinderaufbringung. Es handelt sich de facto um eine schleichende Enteignung der Eltern, weil sie verfassungswidrig Steuern auf ein Einkommen entrichten, über das sie gar nicht verfügen können. Das ifo hat vor vier Jahren mal den Betrag ausgerechnet, den Eltern verfassungswidrig an Steuern gezahlt haben. Herausgekommen sind 44 Milliarden Euro, die die Eltern in den Jahren 1990 bis 2000 verfassungswidrig bezahlt haben. Hinzu kommen noch die enteigneten Arbeitsstunden für die Mütter, ein gigantischer Betrag. Sie, die Mutter, die – so der brillante Jurist Suhr vor 18 Jahren – die gemäß Artikel 6 Absatz 4 GG besonders geschützt sein soll, ist die am meisten Transferausgebeutete von allen. Mir ist kein Verstoß gegen das Grundgesetz bekannt geworden, der so evident und so weitreichend ist wie dieser.

Wir sollten endlich aufhören, Leistungen deshalb nicht anzuerkennen, nur weil sie mit Emotionen, also urpersönlichem Engagement zusam-menhängen, wir sollten aufhören mit solchen masochistischen Sprüchen wie „ich lasse mir meine Liebe nicht bezahlen“ oder „Mutterliebe ist unbezahlbar“. Darüber freuen sich nur die Hedonisten und bewusst Kinderlosen, denn sie profitieren von dem System, sie sind die Nutzniesser der Transferausbeutung. Denn hier handelt es sich um eine bedeutsame, ja unverzichtbare Arbeit für die Gesellschaft, für die Allgemeinheit, für das Gemeinwohl und da ist es nicht nur eine Frage der Bewertung, sondern der Gerechtigkeit. Die Experten sprechen von der Leistungsungerechtigkeit. Sicher, die Liebe ist langmütig, sie trägt das Böse nicht nach, sie kennt keine Erbitterung. Alles erträgt sie, alles duldet sie. Aber in ersten Korintherbrief 13 steht auch: "Am Unrecht hat sie kein Gefallen".  Der Unterschied ist einfach: Das Ertragen und Erdulden gilt für die persönlichen Fehler von Menschen. Ihnen kann und sollte man vergeben. Es gilt nicht für Strukturfehler der Gesellschaft. Hier stehen wir in der Pflicht, gegenzuhalten, den Akt der Gerechtigkeit zu vollziehen und das ist, wie die Klassiker sagen, die restitutio, die Wiederherstellung eines gerechten Zustandes. Die Arbeit der Mütter muss um der Gerechtigkeit und um der Gesundheit des Gemeinwesens willen endlich Anerkennung finden. Das wäre die restitutio. Wie, darüber kann man diskutieren. Über das was nicht mehr, denn der Denkfehler setzt sich fort und wuchert weiter wie ein Krebsgeschwür in der Gesellschaft.

Das Unrecht wird zum Teil in der Familie aufgefangen. Wenn aber die Familie geschwächt wird – weil die „totalitäre Arbeitswelt“, von der schon Ernst Jünger sprach, keine oder wenig Rücksicht nimmt auf die Bedürfnisse der Familie - , dann wird weniger Familienarbeit geleistet und damit weniger Humanvermögen gebildet. Denn das ist die Hauptleistung der Familien, nicht nur das Putzen, Kochen und Bügeln. Darauf komme ich gleich noch zurück. Wichtig ist festzuhalten: Wir haben es bei dem Thema Arbeit, Familie und Geld nicht nur mit Maßnahmen zu tun, um die berühmte work-life-balance herzustellen, sondern mit einem grundsätzlichen Problem vor allem unserer Industriegesellschaften in Europa, nämlich dem zunehmenden Mangel an Humanvermögen, verursacht durch ein fundamentales Unrecht. Die Work-life-Balance spiegelt nur eine Seite, die politisch anerkannte, sozusagen politisch korrekte Seite der Industrie-und Arbeitsgesellschaft wider. Die andere Seite der Münze, auf der sozusagen der Wert dieser Gesellschaft eingeprägt ist, heißt Humanvermögen, und das hat mit der Stabilität der Familie, mit ihrem Zusammenhalt, mit ihrem Wertegerüst zu tun. Diese Seite wird wegen des ersten Denkfehlers oft vergessen, hier setzt das Denken aus.

Diese Doppelgesichtigkeit der Gesellschaft ist allen Staaten in Europa gemeinsam, aber die Ausformungen sind verschieden und zwar so verschieden wie die Regierungssysteme und Mentalitäten der Völker in Europa. Da Familienpolitik sich als  Querschnittsaufgabe durch alle Politikfelder zieht und keineswegs nur ein Teil der Sozialpolitik ist – ich wiederhole:

Familienpolitik ist eine Frage der Leistungsgerechtigkeit,
nicht der Almosen oder Wohltaten von Vater Staat für seine Kinder-,

muss die work-life-balance aus dem jeweiligen System erwachsen, müssen die Maßnahmen zur Herstellung der Gerechtigkeit in dem jeweiligen Steuer – und Sozialsystem gefunden werden. Und deshalb kann ich hier kein Allheilmittel, kein Panacé anbieten, sondern nur hier und da Beispiele nennen, wie einzelne Staaten und Völker in Europa versuchen, Gerechtigkeit zu organisieren oder Bedürfnisse zu befriedigen. Abgesehen davon ist mir noch niemand begegnet, der sämtliche Gesellschaftssysteme in Europa kennt und sie auch  in 40 Minuten darstellen könnte. Erwarten Sie also von einem Tagelöhner des Geistes, so nannte Schopenhauer die Journalisten, bitte nicht, was selbst Geistesgrößen und Professoren nicht leisten könnten. Aber man kann einige Rahmenbedingungen nennen.

Da ist zum Beispiel die Ich-Gesellschaft

das ist ein soziologischer Begriff –, sie ist in allen Ländern Europas eine dominierende Größe, überall boomt der Single-Markt, klettern die Wachstumskurven von Tiefkühlfirmen und – produkten stetig nach oben, steigen die Scheidungszahlen oder stagnieren auf hohem Niveau, nimmt die Zahl der außerehelichen Kinder rasant zu. Mittlerweile wird in Frankreich fast jedes zweite Kind außerhalb einer Ehe geboren. Im so genannten Musterland Schweden sind es 55 Prozent und im Osten Deutschlands sind es rund 45 Prozent der Kinder, im Westen etwa 15 Prozent.

Noch nie hatte die Massengesellschaft so viele Möglichkeiten der Selbsterkenntnis und der unterschiedlichen Lebensentwürfe, und noch nie konnten so unübersehbare Menschenmassen gleichzeitig und global einem Ereignis beiwohnen wie zum Beispiel dem Abschied von Johannes Paul II. und der Wahl seines Nachfolgers oder auch der Fußballweltmeisterschaft. Und dennoch ist der Massenmensch noch nie so allein gewesen, vor allem in den Lichtschatten der glamourösen Millionenmetropolen dieser Welt. Einsamkeit wird zum Schicksal für viele, vor allem ältere Menschen. Auch das gehört zum Preis der Ich-Gesellschaft. Uns sind noch die Bilder des Sommers 2003 vor Augen, als tausende alte Menschen in Frankreich regelrecht austrockneten oder durch Hitzschlag starben. Sie waren allein und alleingelassen. Nie waren die Möglichkeiten des Konsums in den Industriegesellschaften größer, üppiger und überfließender. Und dennoch fehlt der Konsumgesellschaft oft eine entscheidende Option: die Menschlichkeit. Solidarität, Verständnis, Mitgefühl, Empathie und Gemeinsinn – all das ist Mangelware. Die wahre Welt des Menschen hat wenig zu tun mit seiner Warenwelt. Vielfach wird der Mensch selbst zum Konsumartikel.

Die Verhütungsmentalität,

die sich aus der Trennung von Sexualität und natürlicher Fortpflanzung, von Genuss und Verantwortung heraus entwickelt hat, hat viel mit dieser Ich-Gesellschaft und ihrer geistigen Leere zu tun, mit dem Verzicht auf die Suche nach dem was richtig und falsch ist und worin schon Guardini die Krankheit unserer Zeit sah. Dieser Verzicht mache den Menschen, so drückte er es aus, in seinem geistigen Wurzelwerk krank und aus diesem Verzicht, der viele Formen annehmen kann, erwachsen nicht nur Gleichgültigkeit, sondern auch Unfreiheit und moderne Formen des Barbarentums.

Die Entwicklung der modernen Gesellschaft zu diesem Zustand hat natürlich eine Geschichte und sofern sie die Familienstruktur betrifft fängt sie mit der ersten industriellen Revolution und der damit verbundenen Arbeitsteilung an. Sie setzte mit dieser Revolution massiv, eben industriell ein und hat in den letzten zwei Jahrhunderten ganz allgemein eine negative Wirkung auf den ersten Lebensraum der Person, auf die Familie ausgeübt. Der Prozess hat zunächst den Arbeitsplatz und oft auch den Arbeitsort von der Familie entfernt, ja entfremdet und dann die Familienfunktionen reduziert auf die Befriedigung der emotionalen Bedürfnisse. Der Staat übernahm die Funktionen sozialer Absicherung, zum Beispiel der Altersvorsorge – Bismarck schuf die Rente -, oder der Krankenfürsorge und Pflege – die ersten Krankenkassen waren Betriebskassen in England. All das wurde schon auch mit Blick auf die Familie ausreichend beschrieben, zum Beispiel von Mitscherlich, Pross, Godet, Chaunu, Dumont, Goody, – um nur einige wenige zu nennen. Dieser sozio-familiäre Strukturwandel traf die großen Staaten Frankreich, England und Deutschland mehr oder weniger gleichermaßen. Er hatte und hat  Auswirkungen auf die persönlichen Beziehungsstrukturen. Die Abkehr von Gott und damit der Verantwortung vor dem Mitmenschen als Abbild Gottes ist der tiefere Grund für die Bindungsunfähigkeit des modernen Menschen. Die Folge ist ein Bedeutungsverlust von Ehe und Familie als grundlegende Institution des Zusammenlebens. Heute erleben wir übrigens eine Art Renaissance, jedenfalls in den Umfragen, also im Volk, noch nicht in der Politik. Vielleicht hat das auch mit der wachsenden Religiosität zu tun. In vielen Ländern Europas ist aber immer noch das gleiche Phänomen zu beobachten: Das Ich wird zum Maßstab, es wächst die Zahl der nichtehelichen Gemeinschaften. Die Soziologen sprechen von der „Pluralisierung privater Lebensformen“ (Kaufmann) und dem „Monopolverlust der Familie“ (Bertram).

Die Politik zieht in fast allen Staaten Europas, besonders in Mittel- und Nordeuropa, aus dieser Entwicklung die falsche Konsequenz, und das ist der zweite große Denkfehler, keiner Familienform mehr einen Vorzug zu geben, jedenfalls in der Praxis, in der Verfassung ist das noch anders. Sicher: Mehr als neunzig Prozent aller verheirateten Paare haben bereits vor der Hochzeit zusammengelebt und die Zahl der ohne Trauschein lebenden Paare steigt kontinuierlich. Vor zwanzig Jahren waren es in Deutschland 5,8 Prozent aller Paare, heute sind es knapp doppelt so viel. Aber Vorsicht! Hieraus lässt sich kein Ende der Familie oder der Ehe ableiten, wie etliche Medien das eilfertig tun. Der Mikrozensus in Deutschland sagt: Neun von zehn Paaren, genauer 88 Prozent, leben in ehelicher Gemeinschaft. Nicht alle mit Kind, aber drei von vier Kindern leben in diesen Familien. Der Anstieg der nichtehelichen Partnerschaften verläuft also recht langsam. Das gilt auch für Frankreich, auch dort steigen die Zahlen der nichtehelichen Partnerschaften langsamer als früher, signifikant war der Anstieg – übrigens wie in Deutschland – in den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts vor allem bei jüngeren Paaren.

2005 waren mehr als drei Viertel der in Westdeutschland lebenden Familien Ehepaare mit Kindern (76 Prozent); allein erziehende Mütter und Väter machten etwa ein Fünftel der Familien aus (19 Prozent).

Was fehlt sind die kinderreichen Familien,

also mit mehr als drei Kindern. Das ist in Frankreich noch anders. So viele Familien mit drei und mehr Kindern findet man in Europa sonst nur noch in Irland.

Es wäre aber verfehlt zu glauben, dass die gestiegenen Scheidungszahlen zu einer generellen Entwertung von Ehe und Familie führten. Im Gegenteil. Sie machen die Ehe für die Ehepartner nur noch attraktiver, weil man bewusster diesen Bund eingeht. Übrigens ist ein neuer Trend zu beobachten in Deutschland: Es wird weniger geschieden, 2005 waren es weniger als 2004 und für 2006 erwartet man einen erneuten leichten Rückgang. Das hat freilich damit zu tun, dass auch weniger geheiratet wird, aber die Heirat wird auch bewusster eingegangen. Hinzu kommt der Abbau sozialstaatlicher Sicherungssysteme, eine Unsicherheit, die  den Wert von Familie als privates Sicherungssystem steigert.

Auch die so genannte „Partnerfluktuation“,

und die wachsende Zahl von Singles oder Ein-Personen-Haushalten besonders in den größeren Städten (bisweilen mehr als die Hälfte; insgesamt sind es von den rund 39 Millionen Haushalten in Deutschland fast zwei Fünftel) sind alarmierende Zeichen dieser „Ich-Gesellschaft“ mit dem herausragenden Merkmal des Egozentrismus, der Ich-Bezogenheit ihrer einzelnen Mitglieder. Aber auch hier Vorsicht! Viele Ein-Personen-Haushalte bestehen aus Witwen oder Witwern, die ihre Kinder und Enkel besuchen und unterstützen. Das sind auch Familienmenschen. Ohne sie und ihre Transferleistungen (Unterstützung mit Zeit und Geld) wäre die Familie längst zusammengebrochen.

Natürlich wäre hier auch die sogenannte Patchwork-Familie zu erwähnen, in Deutschland etwa 750.000, und die Alleinerziehenden oder andere Familienformen, die statistischen Ämter  in Europa zählen in der Regel zwölf Familienformen auf. 

Der Autor Joachim Bessing, selber Vater und Stiefvater, sieht in seinem Buch „Rettet die Familie!“ die Chance der Patchwork-Familie darin, „sich als traditionelle Kernfamilie zu begreifen, sich also gleichsam selbst als Lebensform außer Kraft zu setzen – und damit Standards für die Zukunft ihrer Kinder und deren Familien zu setzen“. Zurück zur traditionellen Kernfamilie mit ihrem Familiensinn und ihrem Gemeinsinn, zurück zu den Blutsbanden und der natürlichen Solidarität. Es stützt sich bei diesem Plädoyer auf eigene Erfahrungen und spricht von der „Als-ob-Kernfamilie“.

Es zeigt, wie übrigens die Literatur aller Völker,
siehe etwa die griechischen Dramen,
dass familiäre Bindungen und Beziehungen
nicht beliebig austauschbar oder folgenlos zu zerstören sind.

Gerade dieses Plädoyer macht das Paradoxon moderner Gesellschaften mit ihrem sozialen Strukturwandel deutlich. Schon Dahrendorf sprach in den neunziger Jahren vom Doppelgesicht der Moderne, der Zürcher Soziologe Francois Höpflinger von der Koexistenz traditioneller und moderner Lebens- und Familienformen als Hauptmerkmal der aktuellen Situation der Familien in Europa. Festzuhalten ist: Der sozio-ökonomische Wandel hat in allen europäischen Ländern analoge familiale Veränderungen ausgelöst, aber stärker als in anderen sozialen Bereichen ist das familiale Leben durch die Gleichzeitigkeit von Wandel und Kontinuität charakterisiert.

Die Gleichzeitigkeit von Wandel und Kontinuität kommt auch in Umfragen zum Ausdruck. Zum Beispiel kontrastiert der Wunsch, die Gesellschaft möge künftig mehr Wert auf Familienleben legen (zum Beispiel in Deutschland bei 91 Prozent aller Befragten, in Frankreich bei 89, in Großbritannien bei 88) mit den Einschätzungen, die Gesellschaft in Deutschland werde egoistischer, kälter (71 Prozent), Geld werde wichtiger, die Menschen materialistischer (68 Prozent). Die Familie werde an Bedeutung zunehmen, glauben nur 17 Prozent, und sogar nur 6 Prozent nehmen an, dass es künftig mehr Solidarität, mehr Zusammenhalt gebe. Der Wunsch nach Kontinuität ist da, Familie ist nach wie vor gefragt aber gleichzeitig zeigt sich auch ein Wandel, der in den Medien zwar unverhältnismäßig stark hervorgehoben wird, der aber auch real existiert. Das verzerrte Bild in den Medien, das von der Politik zum Leitbild genommen wird, hat mit der wirklichen Meinung der Menschen wenig zu tun, die veröffentlichte Meinung deckt sich nicht mit der öffentlichen Meinung. Wahrscheinlich liegt hier ein starker Wurzelstrang des zweiten Denkfehlers, die Überbewertung und falsche Sicht des sozialen Wandels.

Ich resumiere die kurze sozio-ökonomische Analyse in vier Punkten:

Unsere Gesellschaften sind individualistisch, die Milieus haben sich aufgelöst, es dominiert das hedonistische Ich-Prinzip.

Gesellschaftlich haben wir es gleichzeitig mit der Koexistenz von traditionellen und postmodernen Familienformen zu tun.

Der Wunsch nach Familie, nach Verlässlichkeit und Treue, ist ungebrochen. Die Familie ist Schutzraum der Intimität vor dem Wandel der Kultur und der sozialen Strukturen.

1.     Die Familie hat die Aufgaben der wirtschaftlichen Erhaltung, der Daseinsvorsorge bei Krankheit, Invalidität, Alter usw. verloren oder an den Staat abgegeben und beschränkt sich zunehmend auf die Funktionen der Zeugung des Nachwuchses, seiner Sozialisation und auf die Pflege der innerfamiliären Intimbeziehungen und Emotionen. Die Pflege der Gefühlsbeziehungen, das sei, so viele Soziologen, die heutige Hauptfunktion.

Diese vier Punkte bestimmen auch in hohem Maß das generative Verhalten. Und damit werden individuelle Verhaltensmuster und Lebensstile zu einem gesamtgesellschaftlichen Problem. Es ist ein bekanntes Faktum, dass die Gesellschaften in Europa altern, dass immer weniger Kinder geboren werden. Das ist ein Phänomen der Industriegesellschaften. Die Auswirkungen auf die Sozialsysteme sind evident, aber auch die Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft werden spürbar. Es fehlen die Fachkräfte. Es fehlen die Konsumenten. Produktion und Markt sind im Wandel. Dazu nur ein Gedankenexperiment. Stellen wir uns mal vor: Wenn seit Mitte der siebziger Jahre, da die Geburtenzahlen in Europa auf die Hälfte der Fünfziger Jahre fiel und den Stand nach dem Krieg erreichte, wenn also seit 1975 gar keine Kinder mehr geboren worden wären, wäre der jüngste Europäer jetzt 32 Jahre alt. Wir bräuchten keine Kinderärzte, keine Schulen, Lehrer, Kinderkleidung, Kindernahrung, etc. Dieser Prozess läuft nun in historischer Zeitlupe ab. Ganze Branchen siechen dahin. Gleichzeitig drängen die über 32jährigen in unserem Experiment auf den Arbeitsmarkt, wo es aber weniger Arbeit gibt. Wirtschaft ist unser Schicksal, sagte einst Rathenau über Deutschland und Europa. Heute muss man sagen:

Die Demographie ist unser Schicksal.

In Amerika geht derzeit ein Bonmot über die Europäer und ihre Reformen um: Man sei bemüht, akurat die Liegestühle zurechtzurücken – an Deck der Titanic.

Das Wirtschaftsforschungsinstitut ifo hat in einer Studie über den Zusammenhang zwischen Fertilität und Wirtschaftswachstum herausgearbeitet, was die Experten demographic gap, demographische Lücke, nennen, eine Lücke im Wirtschaftswachstum aufgrund des demographischen Defizits. Diese Lücke lässt sich mit einigen Variablen berechnen. Auch die OECD hat den Einfluss des demographischen Defizits auf das Wachstum beziffert und zwar auf minus 0,5 Prozent pro Jahr. Der sozio-ökonomische Wandel und das demographische Defizit sind also  Herausforderungen jeder Familienpolitik. Wie kann Familienpolitik diese Herausforderungen meistern?

Zweiter Teil: Maßnahmen

Familienpolitik heute ruht auf zwei Säulen: Leistungsgerechtigkeit – das gilt für jede Politik –  und Wahlfreiheit für Frauen – das ist spezifisch. Und sie hat, vor allem in Europa, ein Ziel:  Bevölkerungswachstum.

Anerkennung einer Leistung, also Leistungsgerechtigkeit, und das Angebot der Wahlfreiheit erreicht man in unserer durchökonomisierten Gesellschaft mit Finanzmitteln. Diese werden per Gesetz verteilt. Hier ist der Gestaltungsraum für die Politik.

Wahlfreiheit für die Frau

ist per definitionem nur gegeben, wenn die Familie tatsächlich die zwei Optionen hat, nämlich Erwerbsberuf außer Haus und damit auch Fremdbetreuung für die Kinder oder Familienarbeit und damit auch Selbstbetreuung der Kinder und all das ohne Nachteile in dem einen oder anderen Fall. Schon heute aber werden Eltern verschärft dazu gezwungen, zu zweit einem Erwerbsberuf außer Haus nachzugehen, weil die Politik durch familienfeindliche Gesetze (in Deutschland die Streichung von bisherigen Zuwendungen oder Steuer- Erhöhungen) den Entscheidungsspielraum der Familien existentiell eingeengt und damit das vorhin beschriebene Unrecht noch verschärft hat. Echte Wahlfreiheit würde bedeuten, diesen Spielraum zu vergrößern, und zwar nicht nur durch Schaffung von mehr Krippenplätzen, sondern vor allem durch Erweiterung der wirtschaftlichen Basis. Das kann im Steuersystem geschehen, etwa durch ein Familiensplitting, so wie die Franzosen es handhaben, oder durch Freibeträge pro Person einer Familie (Deutschland) oder durch Kindergeld oder auch durch beides.

Selten war das Wort Honorar so weit entfernt vom Wort Honor, Ehre, wie in der Diskussion um die Familienarbeit/Familienmanagement.

Es gibt heute nur wenige Staaten, die annähernd die Leistung der Eltern honorieren. Norwegen hat ein Erziehungsgehalt, Österreich hat den Kinderbetreuungsscheck, alle Länder haben ein mehr oder weniger hohes Kindergeld oder auch Steuerfreibeträge. Ein Vergleich ist schwierig, schon wegen der unterschiedlichen Besteuerung in Europa. Da in Südeuropa zum Beispiel die Steuermoral nachweislich geringer ist als in Nordeuropa gibt es schon seit Jahrzehnten ein Gefälle zwischen direkten und indirekten Steuern, zwischen hohen Verbrauchssteuern und geringeren Einkommenssteuern im Süden und umgekehrt im Norden. Es ist klar, dass die Mehrwertsteuer und überhaupt Verbrauchssteuern die Familie härter trifft als Ein-Personen-Haushalte. Deshalb haben die hohen Verbrauchssteuern plus geringe Leistungen des Staates für Familien in Südeuropa zu einem Abfall der Geburtenzahlen geführt. Italien, Spanien, Griechenland, Zypern liegen am Ende der Tabelle. Zypern reagiert jetzt. Man will für das dritte Kind eine Geburtsprämie von 35.000 Euro zahlen.

Frankreich lohnt einen kleinen Exkurs, schon weil es in der Familienpolitik eine lange Tradition hat und weil es zurzeit der EU-Staat mit der höchsten Geburtenrate ist: Frankreich fördert die ersten zwei Kinder relativ gering, dagegen steigen die finanziellen Leistungen ab dem dritten Kind sprunghaft. Aber es hat für jedes Kind eine Geburtenprämie von 800 Euro, die drei Monate vor der Geburt ausbezahlt wird (seit 1. Januar 2004). Ferner zahlt der Staat ein dreijähriges und einkommensunabhängiges Erziehungsgeld ab dem zweiten Kind von monatlich 530 Euro; bei einer Teilzeittätigkeit von unter 50% beträgt es noch 400 Euro/Monat (seit 1. Januar 2004). Und er zahlt ein einkommensunabhängiges, einjähriges Erziehungsgeld von monatlich 750 für Eltern, die ihre Berufstätigkeit ab dem dritten Kind nicht länger als 12 Monate unterbrechen (seit Juli 2006). Die anderen familienpolitischen Maßnahmen enthalten das klassische Repertoire, also Kindergeld (allocations familiales), Wohngeld, Mutterschaftsurlaub, Baby-Rentenjahre, bis hin zu spezifisch französischen Maßnahmen wie Familiensplitting (quotient familial), Familienzulagen, Geburts- und Adoptionsurlaub, Schulbeginnhilfe (allocation de rentrée scolaire), Alleinerziehendenhilfe, Haushaltsgründungsdarlehen, Umzugsprämie oder Renovierungsprämie. Die höhere Geburtenquote Frankreichs hat vor allem mit der Subjektförderung zu tun. Hier kann man lernen. In Deutschland frönt man dem Prinzip der Objektförderung. Man investiert in Gebäude, Institute, Planstellen. In Frankreich geschieht beides. Man fördert Einrichtungen und gibt Eltern Geld in die Hand, man fördert auch Subjekte. Das regierungsamtliche Streben nach einer möglichst hohen Geburtenrate geht offensichtlich mit einem gesellschaftlichen Klima einher, bei dem Kinder fast als "nationale Pflicht" gelten, was dadurch gefördert wird, dass der Staatspräsident demonstrativ kinderreiche Französinnen im Elysée-Palast mit einer Medaille auszeichnet. In Deutschland kommt beim siebten Kind der Bürgermeister und überreicht im privaten Rahmen eine Urkunde des Präsidenten.

In Frankreich gibt man dem ideologischen Mainstream der Ich-Gesellschaft und dem Vorrang der Arbeitswelt zwar auch nach, aber hier gibt es auch ein Tradition des Denkens, die in der Familienarbeit mehr als nur ein notwendiges Übel sieht. De Gaulle schrieb in seinen Memoiren:

"Von allen Investitionen ist die Erhöhung der Bevölkerungszahl in Frankreich zweifellos die wichtigste".

Er schrieb diesen Satz und handelte danach, als Frankreich in Trümmern lag und sich familienpolitische Maßnahmen nach heutigem Denken eigentlich nicht leisten konnte. Und lange vor ihm forderte der Abgeordnete Lemire in der Nationalversammlung die Einführung eines Familiengeldes mit dem Argument der Leistungsgerechtigkeit. Er sagte: "Das, was ich von der Kammer fordere, nenne ich weder Hilfe noch Entschädigung. Denn eine Hilfe wird bei einem drängenden oder vorübergehenden Bedarf gewährt, und eine Entschädigung erhält man für einen Verlust. Eine Familie zu haben, bedeutet jedoch, weder einen Unfall noch einen Schaden erlitten zu haben. Eine Zuwendung wie das Familiengeld ist eine Gegenleistung für einen Dienst. Die Familie leistet einen sozialen Dienst." Lemire sagte das am 28.Oktober 1898, vor knapp 110 Jahren. Und ebenfalls vor de Gaulle führte Frankreich 1939 als erstes Land der Welt ein familienpolitisches Rahmengesetz, den code de la famille ein. Die Tradition, das social learning trägt Früchte. Frankreich ist heute das Land mit den meisten Geburten und Kindern in Europa.

In anderen Ländern ist man lernfähig. In Schweden wurde wegen der geringen Geburtenquote in den siebziger Jahren ein Elterngeld für die Dauer von 16 Monaten eingeführt. Wer die familiäre Betreuungslösung über den 16. Monat hinaus bevorzugt, darf dies auch - vorausgesetzt er hat genug Geld. Das konnten sich offenkundig weitaus weniger Schweden/innen leisten als gewünscht, weshalb die Geburtenquote nach einem kurzen Hoch auch wieder sank. Deshalb hat die bürgerliche Regierung beschlossen, ab 2008 ein Betreuungsgeld von rund 300 Euro netto pro Monat für Eltern zu bezahlen, die ihr Kind in den ersten drei Lebensjahren zu Hause betreuen. Damit folgt Schweden dem Vorbild Norwegens (1,8 Kinder/Frau). Dort bekommen Eltern bereits seit einigen Jahren 405 Euro Betreuungsgeld bis zum Ende des dritten Lebensjahrs ihres Kindes für die familiäre Betreuung, wenn sie keinen zur Verfügung stehenden staatlichen Krippenplatz beanspruchen. Und ähnlich ist es in Finnland, weshalb  dort mehr als 90 Prozent der Kinder unter drei Jahren zu hause betreut und erzogen werden.

Dieser Weg zur Schaffung tatsächlicher Wahlfreiheit für Eltern  wurde nun, Ende Februar, bei einer Anhörung im EU-Parlament von Fachleuten als höchst Erfolg versprechend eingestuft. Nicht Kita oder mehr Geld für Eltern, sondern Kita und mehr Geld für Eltern müsse daher die Devise lauten. Das EU-Parlament hat europäisch verglichen und kommt zu dem Schluss: Eltern haben dort mehr Kinder, wo sie sowohl Geld erhalten als auch Betreuungsplätze zur Verfügung stehen - und wo Unternehmen und Väter mitmachen.

Generell lässt sich, was die finanziellen Hilfen angeht, sagen:

Die Kaufkraft ist die einzige familienrelevante Größe.

Und die misst sich in Arbeitsstunden. Hier aber kann man konstatieren, jedenfalls für Deutschland: Der Familienlastenausgleich, also die familiären Finanzmaßnahmen machten in Deutschland in den sechziger Jahren rund 400 Arbeitsstunden pro Jahr aus, heute sind es weniger als 200. Während Löhne, Gehälter und Renten kräftige Steigerungen verbuchten, blieb der Ausgleich für die Leistungen der Familie weit zurück, so dass kinderreiche Familien heute zu den ersten Kategorien der Armen gehören. Jedes siebte Kind in Deutschland lebt in einem Haushalt von Sozialhilfeempfängern. Das wirkt  auf junge Leute abschreckend, wenn es darum geht, Familie zu gründen. Niemand wird gern freiwillig arm. Ganz anders in Frankreich. Und wieder anders in Spanien, Griechenland oder Italien. In diesen Ländern gibt es de facto keine Familienpolitik (Grafik) – also auch kaum Kinder.

Die OECD hat jetzt in einer Studie, in der die Experten sowohl Haushalte mit und ohne Kinder als auch Haushalte mit unterschiedlichem Einkommen vergleichen, vorgerechnet, dass  von einer besonderen Entlastung für Familien nicht die Rede sein kann. Das Gerede in der Politik über viele Zuwendungen ist ein Gerücht. Auch der Vergleich mit geburtenstärkeren Ländern wie Frankreich oder Schweden liefert aufschlussreiche Befunde. Denn dort wurden Familien stärker entlastet als Kinderlose. Traditionell gilt Schweden als Land mit extrem hoher Abgabenbelastung. Tatsächlich lag das Abgabenniveau für Alleinverdiener-Familien bei insgesamt 23%. In Deutschland waren es 23,1%. Demographie hat auch mit Geld zu tun und sinnvoller als in Objekte zu investieren, ist es, die Eltern direkt zu unterstützen, damit wie in Skandinavien das Kind eine individuelle Fürsorge erfährt. Das ist der Schlüssel zum Kindeswohl, nicht die Massenkindhaltung a la DDR. Und die beste individuelle Fürsorge leistet die Mutter.

Dritter Teil: Kreative Kraft der Liebe

Es spricht sich herum in Europa, das individuelle Betreuung das Beste ist für das Kind. Auch in Großbritannien werden die Stimmen immer lauter, die vor der Massenkindhaltung warnen. In einem Artikel vom 8.April in der Sunday Times wird der australische Familienforscher und Kinderarzt Steve Biddulph, zitiert, der herausgefunden hat, dass ein Kind in der Krippe täglich nur acht Minuten direkten Augenkontakt hat. Dabei sind die Augen und der unmittelbare Gesicht-zu-Gesicht-Kontakt wesentlich für die Bindung und den Aufbau des Vertrauens durch die Aktivierung von Spiegelneuronen (Zunge raus, Augenbrauen hoch, etc.). Dadurch entsteht das Gefühl für Schutz und Sicherheit beim Baby. Jay Belsky seinerseits schreibt im Medical Journal, dass  41 Prozent der Krippenkinder mit nur 20 Stunden Krippe pro Woche schon bindungsunsicher seien, und bekannt ist auch, dass der Pegel des Stresshormons Cortisol ungeahnte Auswirkungen auf das Hirn des Kleinkinds und die spätere Gemütsverfassung als Erwachsener hat. Neurowissenschaftliche und biochemische Studien haben nämlich unter Einsatz von Gehirnscans bewiesen, dass das Nervensystem nicht nur auf emotionale Stimuli reagiert, sondern sich dabei auch ausformt. Das Babygehirn ist noch ziemlich unstrukturiert und benötigt Stimulation zur Entwicklung - und zwar nicht nur kognitive Anregungen in Form von Spielen, Farben oder Musik, sondern auch liebevolle Begegnungen. Freundliches Lächeln, Augenkontakt und das Gefühl, umsorgt zu sein, erzeugen Wohlbehagen und setzen gleichzeitig im präfrontalen Kortex Hormone frei -  in jenem Gehirnbereich also, der sich in den ersten Jahren formt und für eine reife Sozialentwicklung entscheidend ist. Je mehr positive soziale Interaktionen stattfinden, umso besser vernetzt ist der präfrontale Kortex.

Die scheinbar simple Frage, ob ein hilflos schreiendes Baby in den Arm  genommen werden sollte oder nicht ist angesichts dieser Erkenntnisse nicht mehr eine Frage des Erziehungsstils. Unbestrittene Tatsache ist, dass Babys ihren eigenen Stress nicht abbauen können — sie können sich nicht bewusst ablenken, wenn sie erregt sind. In dieser Situation produziert der Hypothalamus Signalstoffe, die zur Ausschüttung des Stresshormons Kortisol führen. In späteren Jahren reagiert das Hirn dann auf Stresssituationen entweder mit hormoneller Überproduktion (Ängste und Depressionen sind die Folge) oder mit Unterversorgung (emotionale Kälte und Aggression). Der Anstieg des Kortisolspiegels während des Tages bei Kleinkindern in außerfamiliären Ganztagesbetreuungseinrichtungen ist jedenfalls nachgewiesen und auch logisch. Die Betreuerinnen können sich nicht gleichzeitig um mehr als sechs, sieben Babys kümmern. Über längere Zeit erhöhte Kortisolwerte jedoch setzen einen Stresspegel fest, so dass schon kleine Stress-Situationen zu Ängsten oder gar depressiven Phasen führen. Wichtig für das Kleinkind in den ersten zwei Jahren ist das Gefühl, dass es ständig bei jemandem im Kopf, noch besser im Herzen ist. Es kann eine emotionale Isolation nicht wirklich verarbeiten. Deshalb zweifelt die Psychotherapeutin Sue Gerhardt auch daran, dass Fremdbetreuung diese Erziehungsqualität bieten kann. In ihrem Buch „Warum Liebe wichtig ist – Wie Zärtlichkeit das Gehirn des Babys formt“ schreibt sie:

„Fremdbetreuten Kleinkindern fehlt die Erfahrung,
von besonderer Bedeutung für einen anderen Menschen zu sein“.

Man könnte auch sagen, ihnen fehlt die Erfahrung der Liebe. Wenn diese Erfahrung gegeben ist, dann hört das Kind auf die Stimme, die nein sagt, weil von dieser Stimme und diesem Gesicht auch das Lächeln und die Liebe kommt. Bei einer Betreuerin dagegen lohnt es sich sozusagen nicht, darauf zu hören. Es sei denn, man hat Sanktionen zu befürchten, was natürlich auch bei Eltern der Fall sein kann. Möglicherweise liegt hier der Grund für die nachweislich höhere Aggressionsbereitschaft von Krippenkindern und man kann sich auch fragen, ob es nur Zufall ist, dass die Vervielfachung der Betreuungszahlen- und einrichtungen in den letzten zwanzig Jahren einhergeht mit einem rasanten Anstieg an Verhaltenstörungen bei Kindern und ob wir hier nicht an einer gesellschaftlichen Zeitbombe basteln.

Stanley Greenspan, Professor für Psychiatrie an der Universität Washington, beschreibt in seinem Buch (Die bedrohte Intelligenz – Die Bedeutung der Emotionen für unsere geistige Entwicklung, München, 1997) die Emotionen als „Architekten“ komplexer kognitiver Operationen, als die Bausteine menschlichen Bewusstseins. Sie beeinflussten die Ausbildung moralischer Kategorien und seien die Grundlage für die Reifung menschlicher Intelligenz. Wie ein roter Faden durchzieht das Werk dieses Verhaltensforschers und Kinderarztes die Erkenntnis, dass eine Welt, die ihren Kindern in den ersten Lebensjahren Wärme, Zuneigung und Sicherheit verweigert, auf Dauer auch ihren Fortbestand gefährdet. Greenspan formuliert aus dieser Erkenntnis den, wie er es nennt, „menschlichen Imperativ, in der Familie, der Erziehung, der Psychotherapie, der Ehe und den Institutionen der Sozialfürsorge dem Wohl der Kinder, den zwischenmenschlichen Beziehungen und der Qualität der emotionalen Erfahrung den höchsten Rang einzuräumen“.

Die Qualität des Humanvermögens hat mit der Familie und ihren Lebensumständen zu tun. In einer Gesellschaft aber, die die Familie als Primärquelle des Humanvermögens strukturell behindert und ausbeutet, wie wir eben ausgeführt haben und wie das BVG wiederholt festgestellt hat, wird das Humanvermögen zur Mangelware. Es geht längst nicht mehr nur um Werte. Wenn Wirtschaft und Politik sich weiterhin weigern, den Zusammenhang zwischen Familie und Humanvermögen zu sehen, dann laufen auch alle Reformen der Sozial- und Bildungssysteme ins Leere. Der Göttinger Hirnforscher Gerald Hüther kommt in einem Vortrag zu dem Schluss: „Die wichtigste Voraussetzung für die Herausbildung und Stabilisierung komplexer neuronaler Verschaltungsmuster im kindlichen Hirn ist emotionale Sicherheit (Sicherheit bietende Bindungsbeziehungen, Vertrauen)“. Diese Erkenntnis wird auch von der deutschen Bindungsforschung bestätigt. Die Regensburger Bindungsforscherin Karin Grossmann, eine Schülerin von John Bowlby, dem Vater der Bindungsforschung, bestätigt anhand der Ergebnisse einer fünfundzwanzigjährigen Langzeitstudie den Zusammenhang zwischen frühkindlicher Bindung und späterer Entwicklung. Man kann ihre Arbeit folgendermaßen resümieren: Die Bindung an mindestens einen fürsorglichen Elternteil in den ersten Lebensjahren entscheidet maßgeblich über den Erfolg in Schule, Ausbildung, Beruf und Partnerschaft.

Natürlich bedeutet Fürsorge Zeit. Schon Pestalozzi sprach davon, formulierte es in seinen berühmten drei großen Z: Zuwendung, Zärtlichkeit, Zeit. Das wichtigste Z ist die Zeit. Ohne Zeit keine oder wenig Zuwendung. Mangel an Zeit oder auch Doppelbelastung bedeutet Stress. Baby gestresster Mütter sind nach Erkenntnissen von Psychologen der Universität Wisconsin im späteren Leben selber überdurchschnittlich stressanfällig. Die Reaktionsart werde bereits im Kindesalter festgelegt. Für eine reife Sozialentwicklung sei entscheidend – auch hier wieder - , dass ein Baby in den ersten beiden Lebensjahren eine vertraute Person zur Seite habe, die es anlächelt und zärtlich mit ihm umgehe. Dabei würden Hormone in jener Gehirnzone freigesetzt, die für die Sozialentwicklung wichtig sei und später auch den Umgang mit den Gefühlen anderer beeinflussten. Betreuerinnen haben wenig Zeit und einen geregelten Arbeitstag, Mütter nehmen sich die Zeit für ihr Kind, wenn es sein muss rund um die Uhr. Hinzu kommt eine weitere Erkenntnis aus Amerika: Ab sechs, sieben Kindern ist die Förderkapazität der Erzieherinnen erschöpft, dann wird nur noch betreut nach dem Prinzip: satt, sauber, beschäftigt. Das ist genau das, was in den meisten Kindergärten heute geschieht.  

Vierter Teil: Schlussfolgerungen

Die Schlussfolgerung aus solchen wissenschaftlichen Erkenntnissen kann nur lauten, dass ein Baby in den ersten Lebensjahren eine Person braucht, die ihm vertraut ist, die spürt, wie es dem Kind geht, die es anlächelt und zärtlich zu ihm ist. Und das schon vor der Geburt. Denn schon vor seiner Geburt hat ein Baby über viele Wochen und Monate seine Sinnesorgane und das Gehirn trainiert. Im Mutterleib wird es eben nicht nur mit Nahrung versorgt, sondern die Informationsverarbeitung setzt ein und das Gehirn entwickelt sich, berichtet die Zeitschrift „bild der wissenschaft“ in ihrer Februarausgabe 2006. Hören, Sehen, Schmecken, Riechen – alles wird schon im Bauch der Mutter angelegt. Sinneseindrücke und Training beeinflussen die Reifung und Vernetzung des Gehirns nicht erst nach der Geburt – wie früher von Forschern angenommen –, sondern schon wenige Wochen nach der Zeugung. Schon ab der sechsten Schwangerschaftswoche können Embryonen etwa Berührungen an Lippen und Nase spüren. Später, in der zweiten Schwangerschaftshälfte erzeugt der Embryo durch Stöße und Tritte von Armen und Beinen eine erste Landkarte über den eigenen Körper im Gehirn. Neben der Nährstoffversorgung über die Plazenta trinkt es auch Fruchtwasser und trainiert so die Geschmacksknospen. Ab der 24. Schwangerschaftswoche werden die Anlagen für das Hör-Erleben gelegt. Der Fötus scheint auf Signale von außen zu lauschen. Zu eintönig sind ihm dann Atmung, Herzpochen und Darmgluckern der Mutter. Versuche haben gezeigt, dass nach der Geburt nicht nur Stimmen wieder erkannt werden, sondern auch Melodien aus den Lieblingsfernsehsendungen der Mutter oder das Brummen des Computerlüfters. Letzteres kann dann zum Einschlaflied des Babys werden. All dies zeigt den Forschern, dass Kinder bereits im Mutterleib anfangen zu lernen. Die meisten Gehirnzellen, die der werdende Mensch im späteren Leben brauchen wird, entstehen schon in der ersten Schwangerschaftshälfte. In Spitzenzeiten bilden sich eine halbe Million Nervenzellen pro Minute.

Der amerikanische Professor Thomas Verny hat 2002 die bisherigen Ergebnisse der Hirnforschung zusammengetragen. Demnach ist bis zum dritten Geburtstag das junge Hirn eine wahre Synapsenfabrik. Mit drei Jahren hat das Gehirn des Babys 1000 Billionen Synapsen, doppelt so viele wie sein Kinderarzt. Denn das Gehirn baut im Lauf der Jahre auch Synapsen ab, wenn es sie nicht gebraucht. Das ist wie mit Pfaden durch eine Wiese. Wenn sie oft gebraucht werden, entstehen Wege, wenn nicht, dann werden sie überwuchert und verschwinden. Jede Gehirnzelle kann 15.000 Verbindungen mit anderen Zellen eingehen. Je mehr Verschaltungen, umso komplexer die neuronalen Netzwerke, umso kreativer der Mensch. Thomas Verny fasst zusammen: „Liebevolle, aufmerksame und verständige elterliche Fürsorge ist entscheidend“. Die Ergebnisse der Forschung bewiesen, dass die Art der elterlichen Zuwendung mehr Einfluss auf die Hirnentwicklung hat als man je für möglich gehalten hätte.

Was der Sauerstoff für das Gehirn sei,
das seien freundliche, respektvolle und liebevolle Worte
für das junge Bewusstsein.

Verney wörtlich:

„Wenn wir uns danach sehnen, dass das Gute über das Böse siegt, dann müssen wir endlich lernen, unseren Materialismus durch Mütterlichkeit zu ersetzen“.

Denn, so kann man hinzufügen, dieses Vertrauen, diese emotionale Stabilität ermöglicht es, dass das Baby auf Entdeckungsreise geht, dass es Erfahrungen sammelt, dass der liebende Blick der Mutter oder des Vaters diese Erfahrung lobt und bestätigt und so die positiven Verschaltungen erst zustande kommen. Fehlt das Vertrauen, fehlt die Zuwendung, fehlt das Lächeln, fehlt die Bestätigung, dann fehlt die emotionale Sicherheit – zum Beispiel, weil es zuviel wechselnde Betreuungspersonen, weil es zuviel fremde Gerüche, zuviel Stimmen, zuviel andere Augen, zu wechselhafte Reaktionen auf Entdeckungsversuche gibt – und dann bleibt das Baby in seinem Schneckenhaus und sammelt eben nicht die synapsenbildenden Erfahrungen. Der Dichterfürst Goethe hat das einmal bündig so beschrieben: Man lernt nur von dem, den man liebt.

Natur-Wissenschaft, vor diesem Hintergrund erhält der Name einen neuen Klang. Es ist die Natur der Liebe, die Kreativität schafft, Integrität, Innovationskraft, Ausdauer, das Lernen-Können und die soziale Kompetenz – kurz das Humanvermögen. Das ist das Sensationelle an der Hirn-und Bindungsforschung. Sie bestätigt die alte Lehre vom Gelingen des Menschseins, sie bestätigt antike Philosophen, Kirchenlehrer und Pädagogen. Sie bestätigt aber vor allem uns selbst. Denn wir haben ja alle die Neigung in uns, Kinder zu lieben, ja,

Kinder sind letztlich deshalb ein Segen,
weil sie uns lehren zu lieben.

Die Liebe ist das Ur-Geschenk, sagt Thomas von Aquin, alles, was uns sonst noch unverdient gegeben werden mag, wird erst durch sie zum Geschenk. Und, so lässt sich mit Alfred Adler folgern, alle menschlichen Verfehlungen sind das Ergebnis eines Mangels an Liebe.

Überall wird dennoch wie ein Mantra die „Betreuungslösung“ angeboten. Sie führt zu einer Mutterentbehrung, vor der manche kundigen Experten eindringlich warnen. Professor Johannes Pechstein (Mainz) gehört dazu und auch Hans Joachim Maaz, der Leiter der psychotherapeutischen Klinik in Halle, der mit seinem Buch „Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR“ nach der Wende erhebliches Aufsehen erregte. Maaz hat in einer Studie über Mutterschaftsstörungen auch eindringlich darauf hingewiesen, was das Kleinkind braucht und welche Schäden die Fremdbetreuung, der „Muttermangel“ und die „Mutterverarmung“ nach sich ziehen können. Er schreibt:

„In den ersten drei Lebensjahren des Kindes ist die Mutter die wichtigste Bezugsperson in jeder Hinsicht – durch nichts und niemanden wirklich zu ersetzen und ohne Schädigung des Kindes auch nicht zu kompensieren. Die Zeit der sozialen Frühgeburt ist erst nach etwa drei Jahren beendet. In dieser Zeit der wesentlichen Strukturbildung der Persönlichkeit bilden sich ganz basale Fähigkeiten von Welterfahrung heraus: Urvertrauen oder Urmisstrauen, Gewissheit oder Zweifel, Selbstsicherheit oder Selbstunsicherheit, Selbstbewusstsein oder Minderwertigkeitsgefühle. Auch die Wurzeln für Sinnerfahrung, Beziehungsfähigkeit und Realitätsbezug gegen Sinnlosigkeit, Kontaktangst und Irrationalität entfalten sich in dieser Zeit. So entscheidet die Mutter auf das Nachhaltigste über die Zukunft ihres Kindes. Sie sollte also in dieser Prägungsphase am besten immer präsent sein und nur das Kind entscheiden lassen, wenn dieses sich mal von seiner Mutter zurückziehen oder entfernen möchte“ .

Es sind die Mütter, die jene berühmten  Voraussetzungen schaffen, von denen der Staat lebt und die er selber nicht schaffen kann. Und gerade diese Personengruppe wird von der Politik in fast allen Staaten der EU ungerecht behandelt. Aber ohne sie gibt es kein Kindeswohl und keine Quelle des Humanvermögens, keine kreative Kraft der Liebe. Thomas von Aquin vergleicht die Gottesliebe nicht umsonst mit der Mutterliebe, weil die Mütter mehr daran dächten zu lieben als geliebt zu werden. Ihre kreative Liebeskraft sorgt zwar nicht für die heile Welt, aber für die Heilung der Welt. Teilhard de Chardin hat Mitte des vergangenen Jahrhunderts vorhergesagt, dass die Menschen eines Tages lernen würden, die Energien der Liebe nutzbar zu machen und dass dies ein ebenso entscheidender Entwicklungsschritt in der Menschheitsgeschichte sein werde wie die Entdeckung des Feuers. Hoffentlich behält er recht. Was fehlt ist die Offenheit, die kreative Kraft der Liebe anzuerkennen. Wer Kinder jedenfalls von der Wiege an in Fremdbetreuung geben will, der hat den Sinn für die Liebe verloren. Papst Benedikt schreibt in seiner ersten Enzyklika:

„Der totale Versorgungsstaat, der alles an sich zieht,
wird letztlich zu einer bürokratischen Instanz,
die das Wesentliche nicht geben kann,
das jeder Mensch braucht:
Die liebevolle, persönliche Zuwendung“.

Das ist die zweite Schlussfolgerung:

Eltern brauchen Zeit für ihre Kinder. Politik und Wirtschaft müssen den Eltern diese Zeit geben, nicht als Geschenk, sie schulden sie ihnen. Zeit ist das größte Problem für die meisten Eltern. Alle Parteien singen als Lösung der gesellschaftlichen Probleme das Hohelied der Vereinbarkeit. Vorfahrt für Wirtschaft und Beruf. Man verweigert schlicht die Zeit und damit die Wahlfreiheit. Vollmundig stimmt man in den Chor der Verfemung des Herdes ein, so als ob dieses arme Küchengerät Teufelswerk wäre. Abgesehen davon, dass der Herd, wie Alfred Biolek unermüdlich zeigt, ein durchaus menschliches Arbeitsfeld ist, hat er auch eine kulturelle Vergangenheit. Auf dem Forum Romanum sind noch heute die Reste des Tempels der Vesta, der Göttin des Herdfeuers zu sehen. Das Herdfeuer war Mittelpunkt des Hauses und des Staates. Mit der Aufgabe der Feuerstätte zugunsten von Fastfood hat man die Wärme der familiären Gemeinschaft auf die Temperatur des Kühlschranks abgekühlt. Familie ist da, wo ein Kühlschrank steht, heißt ein Bonmot. Aber es gibt kaum einen Ort der Erziehung, der markanter wäre als das regelmäßige gemeinsame Essen. Hier ist Kommunikation, hier entsteht emotionale Stabilität. Und deshalb sind Länder wie Italien trotz ihrer geringen Geburtenquote auch noch nicht verloren, denn dort geschieht diese Kulturtat noch am häufigsten, wie diese Grafik zeigt.

Ohne gemeinsame Zeit keine gemeinsamen Erlebnisse, kein emotionaler Reichtum. Das ist das eigentliche Drama, das Ungeheuer, das hinter den Zahlenkolonnen der Demographie schlummert, die emotionale Verarmung, der Mangel an Liebe. Der innere Zusammenhalt der Gesellschaft, die Bänder des Herzens, Solidarität, Liebe oder auch nur Zuwendung, wenn diese Quelle versiegt, weil die Ich-Gesellschaft sie verschüttet  -

Liebe ist die einzige Ware, die sich vermehrt,
wenn man sie verschenkt,

bemerkte die heilige Mutter Teresa – wenn diese Quelle versiegt, weil zuwenig geliebt wird, dann versinken wir in eine repressive Gesellschaft. Und diese Frage ist brandaktuell und dennoch so alt wie die Demokratie. Schon die Griechen stellten sie sich. Prinzipiell gibt es nur 2 Gesellschaftsmodelle: Das Konfliktmodell und das Konsensmodell. Ein Ahnherr der Konflikttheorie, der Sophist Thrasymachos, sah als alleiniges Kriterium für das gesellschaftliche Handeln die technische Durchsetzbarkeit. Was geht, wird gemacht. Keine Rücksicht auf Ethik oder Würde im Alter. Das Ergebnis ist der repressive Staat mit Euthanasie und Instrumentalisierung der Familie. Aristoteles dagegen sah nicht im Henker sondern in der Freundschaft das Band der Gesellschaft. Sie sei „das Nötigste im Leben“, meinte der große Grieche. Und man kann hinzufügen: In der Familie findet sie, die Freundschaft, ihr Zuhause. Das ist die Alternative der Zukunft: Eine solidarische Gesellschaft mit freundschaftlichen Formen des Zusammenlebens der Generationen, so wie hier auf dem Bild oder eine repressive mit der Kultur des Todes und der Ich-Mentalität. Die Demographie spitzt diese Alternative immer schärfer zu. Und vielleicht ist gerade diese Zuspitzung unsere Chance.

Ich danke für die große Geduld.