Liebe
Brüder und Schwestern!
In dieser heiligen Messe, der
ich zu meiner großen Freude vorstehe und die ich zusammen mit vielen Brüdern im
Bischofsamt und mit einer großen Zahl von Priestern feiere, danke ich dem Herrn
für all die geliebten Familien, die sich hier in froher Schar versammelt haben,
sowie für die vielen anderen, die in fernen Ländern diese Feier über Radio und
Fernsehen verfolgen. Ich möchte euch alle grüßen und euch meine große Zuneigung
mit einem Friedensgruß zum Ausdruck bringen.
Die Zeugnisse von Ester und Paulus, die wir vorhin in den Lesungen gehört
haben, zeigen, dass die Familie dazu berufen ist, an der Weitergabe des
Glaubens mitzuwirken. Ester bekennt: »Von Kindheit an habe ich in meiner
Familie und meinem Stamm gehört, dass du, Herr, Israel aus allen Völkern
erwählt hast« (4,17m). Paulus folgt der Tradition seiner jüdischen Vorfahren,
indem er Gott mit reinem Gewissen verehrt. Er lobt den aufrichtigen Glauben des
Timotheus und erinnert ihn an den »Glauben, der schon in deiner Großmutter Loïs
und in deiner Mutter Eunike lebendig war und der nun,
wie ich weiß, auch in dir lebt« (2 Tim 1,5). In diesen biblischen Zeugnissen umfaßt die Familie nicht nur Eltern und Kinder, sondern
auch die Großeltern und Vorfahren.
Die Familie zeigt sich uns so als eine Gemeinschaft von
Generationen und als Garantin eines Erbes von Traditionen.
Kein Mensch hat sich selbst ins Dasein gerufen, noch hat er
die Grundkenntnisse des Lebens allein erworben. Wir alle haben das Leben und
die Grundwahrheiten des Lebens von anderen empfangen und sind aufgerufen, die
Vollkommenheit in Beziehung und liebender Gemeinschaft mit den anderen Menschen
zu erlangen. Die Familie, die auf die unauflösliche Ehe zwischen einem Mann und
einer Frau gegründet ist, drückt diese Dimension der Beziehung, der Kindschaft
und der Gemeinschaft aus und ist der Rahmen, in dem der Mensch mit Würde
geboren werden, wachsen und sich ganzheitlich entwickeln kann.
Wenn ein Kind geboren wird, beginnt es, durch die Beziehung zu seinen Eltern
Teil einer Familientradition zu werden, die noch ältere Wurzeln hat. Mit dem
Geschenk des Lebens empfängt es ein ganzes Erbe an Erfahrung. Bezüglich dieses
Erbes haben die Eltern das unveräußerliche Recht und die unveräußerliche
Pflicht, es an die Kinder weiterzugeben: sie bei ihrer Identitätsfindung zu
erziehen, sie einzuführen in das gesellschaftliche Leben, in den verantwortungsvollen
Umgang mit ihrer sittlichen Freiheit und ihrer Fähigkeit zu lieben – durch die
Erfahrung, geliebt zu werden – und sie vor allem einzuführen in die Begegnung
mit Gott. Die Kinder wachsen und reifen menschlich in dem Maße, in dem sie
vertrauensvoll dieses Erbe und diese Erziehung annehmen, in die sie Schritt für
Schritt hineinwachsen. Auf diese Weise sind sie in der Lage, eine persönliche
Synthese zu entwickeln aus dem, was sie empfangen haben, und dem Neuen, eine
Synthese, die zu verwirklichen jeder einzelne und jede Generation aufgerufen
ist.
Im Ursprung jedes Menschen und somit in jeder menschlichen Vater- und
Mutterschaft ist Gott der Schöpfer gegenwärtig. Daher müssen die Eltern das
Kind, das ihnen geboren wird, nicht nur als ihr eigenes Kind, sondern auch als
Kind Gottes annehmen, der es um seiner selbst willen liebt und es zur
Gotteskindschaft beruft. Mehr noch: Jeder Zeugungsakt, jede Vater- und
Mutterschaft, jede Familie hat ihren Anfang in Gott, der Vater, Sohn und
Heiliger Geist ist.
An Ester hat ihr Vater, im Gedächtnis an seine Vorfahren und sein Volk, die
Erinnerung an einen Gott weitergegeben, von dem alle Menschen herkommen und vor
dem alle Menschen sich verantworten müssen – die Erinnerung an jenen Gott und
Vater, der sein Volk erwählt hat und der in der Geschichte für unser Heil
wirkt. Die Erinnerung an diesen Vater erhellt die tiefere Identität der
Menschen: woher wir kommen, wer wir sind und wie groß unsere Würde ist.
Natürlich kommen wir von unseren Eltern und sind ihre Kinder; wir kommen aber
auch von Gott, der uns nach seinem Abbild geschaffen und uns berufen hat, seine
Kinder zu sein. Daher steht am Anfang jedes Menschen nicht der Zufall oder eine
Fügung des Schicksals, sondern ein Plan der göttlichen Liebe. Das hat uns Jesus
Christus, wahrer Sohn Gottes und vollkommener Mensch, offenbart. Er wusste,
woher er kam und woher wir alle kommen: aus der Liebe seines Vaters und unseres
Vaters.
Der Glaube ist also kein bloßes kulturelles Erbe, sondern ein ständiges Wirken
der Gnade Gottes, der ruft, und der menschlichen Freiheit, die diesen Ruf annehmen kann oder auch nicht. Auch wenn niemand für einen
anderen Menschen antworten kann, so sind doch die christlichen Eltern
aufgerufen, ein glaubwürdiges Zeugnis ihres Glaubens und ihrer christlichen
Hoffnung zu geben. Sie müssen dafür sorgen, dass der Ruf Gottes und die Frohe
Botschaft Christi ihre Kinder mit größter Klarheit und Unverfälschtheit
erreichen.
Im Laufe der Jahre muss dieses Geschenk Gottes, das den Kindern unter
Mitwirkung der Eltern vor Augen geführt wird, auch weise und liebevoll gepflegt
werden, um so in den Kindern die Unterscheidungsgabe wachsen zu lassen. Auf
diese Weise werden das beständige Zeugnis der ehelichen Liebe der Eltern, die
aus dem Glauben gelebt wird und von ihm durchdrungen ist, und die liebevolle
Begleitung von Seiten der christlichen Gemeinschaft den Kindern helfen, sich
das Geschenk des Glaubens zu eigen zu machen, durch ihn den tiefsten Sinn des
eigenen Daseins zu entdecken und froh und dankbar dafür zu sein.
Die christliche Familie gibt den Glauben weiter, wenn die Eltern ihre Kinder
beten lehren und mit ihnen beten (vgl. Apostolisches Schreiben Familiaris consortio, 60), wenn
sie sie auf die Sakramente vorbereiten und sie in das Leben der Kirche einführen,
wenn sie zusammenkommen, um die Bibel zu lesen, und so das Familienleben mit
dem Licht des Glaubens erleuchten und Gott als Vater preisen.
In der heutigen Kultur wird sehr oft die Freiheit des Individuums verherrlicht,
das als autonomes Subjekt betrachtet wird, so als würde dieses aus sich selbst
heraus entstehen und sich selbst genügen, außerhalb seiner Beziehung zu den
anderen und fern seiner Verantwortung ihnen gegenüber. Man sucht das soziale
Leben nur von den subjektiven und veränderlichen Wünschen her zu organisieren,
ohne Bezugnahme auf eine vorhergehende objektive Wahrheit, wie die Würde jedes
Menschen und seine unveräußerlichen Rechte und Pflichten, in deren Dienst sich
jede soziale Gruppe stellen muss.
Die Kirche erinnert stets daran, dass die wahre Freiheit des Menschen daher
kommt, dass er nach dem Bild Gottes, ihm ähnlich geschaffen ist. Deshalb ist
die christliche Erziehung eine Erziehung zur Freiheit und für die Freiheit.
»Wir tun das Gute nicht wie Sklaven, die nicht die Freiheit haben, anders zu
handeln, sondern wir tun es, weil wir persönliche Verantwortung für die Welt
tragen, weil wir die Wahrheit und das Gute lieben, weil wir Gott lieben und
daher auch seine Geschöpfe. Das ist die wahre Freiheit, zu der der Heilige
Geist uns führen will« (Pfingstvigil auf dem Petersplatz aus Anlass der
Begegnung mit den kirchlichen Bewegungen und neuen Gemeinschaften am 3. Juni
2006; in O.R. dt., Nr. 24, 16.6.2006, S. 8).
Jesus Christus ist der vollkommene Mensch, Vorbild der Freiheit des Sohnes, der
uns lehrt, den anderen Menschen seine Liebe weiterzugeben: »Wie mich der Vater
geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt. Bleibt in meiner Liebe!« (Joh 15,9). In diesem Zusammenhang lehrt das Zweite
Vatikanische Konzil: »Die christlichen Eheleute und Eltern müssen auf ihrem
eigenen Weg in treuer Liebe das ganze Leben hindurch einander in der Gnade Halt
und Stütze sein und die von Gott gerne empfangenen Kinder mit den christlichen
Lehren und den Tugenden des Evangeliums erfüllen. So geben sie allen das Beispiel
einer unermüdlichen und großmütigen Liebe, sie bauen die Bruderschaft der Liebe
auf, sind Zeugen und Mitarbeiter der fruchtbaren Mutter Kirche, zum Zeichen und
in Teilnahme jener Liebe, in der Christus seine Braut geliebt und sich für sie
hingegeben hat« (Lumen gentium,
41).
Die Liebe und Freude, mit der unsere Eltern uns angenommen und unsere ersten
Schritte in dieser Welt begleitet haben, ist wie ein sakramentales Zeichen und
eine Verlängerung der gütigen Liebe Gottes, von dem wir kommen. Die Erfahrung,
von Gott und von unseren Eltern angenommen und geliebt zu sein, ist die sichere
Grundlage, die stets das Wachstum und die wahre Entwicklung des Menschen
fördert und uns sehr hilft, auf dem Weg zur Wahrheit und zur Liebe zu reifen
und aus uns selbst herauszutreten, um in Gemeinschaft mit den anderen Menschen
und mit Gott einzutreten.
Um auf diesem Weg menschlichen Reifens voranzuschreiten,
lehrt uns die Kirche, die wunderbare Wirklichkeit der unauflöslichen Ehe
zwischen einem Mann und einer Frau, die auch der Ursprung der Familie ist, zu
achten und zu fördern. Daher ist die Anerkennung und Unterstützung dieser
Institution einer der größten Dienste, die man heutzutage dem Gemeinwohl und
der wahren Entwicklung der Menschen und der Gesellschaften leisten kann, sowie
die beste Garantie für die Sicherstellung der Würde, der Gleichheit und der
wahren Freiheit der menschlichen Person.
In diesem
Sinn möchte ich die Bedeutung und die positive Rolle unterstreichen, welche den
verschiedenen kirchlichen Familienvereinigungen in Bezug auf Ehe und Familie
zukommt. Deshalb möchte ich »alle Christen einladen, beherzt und herzlich mit
allen Menschen guten Willens zusammenzuarbeiten, die ihre Verantwortung für den
Dienst an der Familie wahrnehmen« (Familiaris consortio, 86), um mit vereinten Kräften und durch eine
berechtigte Vielzahl von Initiativen zur Förderung des wahren Wohls der Familie
in der heutigen Gesellschaft beizutragen.
Kehren wir einen Augenblick zur Ersten Lesung der heutigen Messe zurück, die
dem Buch Ester entnommen ist. Die betende Kirche hat in dieser demütigen
Königin, die mit ihrem ganzen Sein für ihr leidendes Volk eintritt, ein
»Vorausbild« Mariens erblickt, die ihr Sohn uns allen als Mutter geschenkt hat;
ein »Vorausbild« der Mutter, die mit ihrer Liebe die Familie Gottes auf ihrem
Pilgerweg in der Welt schützt. Maria ist das Vorbild aller Mütter, ihrer großen
Sendung als Hüterinnen des Lebens, ihres Auftrags, die Kunst des Lebens und die
Kunst des Liebens zu lehren.
Die christliche Familie – Vater, Mutter und Kinder – ist also berufen, die
aufgezeigten Ziele nicht als etwas von außen Auferlegtes zu erfüllen, sondern
als ein Geschenk der Gnade, die den Eheleuten im Ehesakrament eingegossen
wurde. Wenn die Eheleute offen bleiben für den Geist und seine Hilfe erbitten,
wird er ihnen unablässig die Liebe Gottes, des Vaters, mitteilen, die in
Christus offenbar und Fleisch geworden ist. Die Gegenwart des Geistes wird den
Eheleuten helfen, die Quelle und den Maßstab ihrer Liebe und Hingabe nicht aus
den Augen zu verlieren und mit dem Geist zusammenzuarbeiten, um ihn in allen
Dimensionen ihres Lebens gegenwärtig und Fleisch werden zu lassen. Zugleich
wird der Geist in ihnen die Sehnsucht nach der endgültigen Begegnung mit
Christus im Haus seines und unseres Vaters wecken. Das ist die Botschaft der
Hoffnung, die ich von Valencia aus an alle Familien der Welt senden möchte.
Amen.