Gottes Wort, Samenkorn der Liebe

Vortrag beim V. Symposion der Initiative Hauskirche, "Gottes Wort für die Familien!" am 6. April 2003 in Salzburg

Liebe Schwestern, liebe Brüder!

1. Der Herr ruft seine Jünger des Öfteren ins Abseits, um mit ihnen ein wenig auszuruhen und um ihnen dabei die Geheimnisse Gottes zu offenbaren.

Man kann nicht dauernd ausatmen, weil uns dann die Puste ausgeht, man braucht auch Momente des Einatmens, um anschließend wieder ausatmen zu können. Eine solche Situation ist uns heute geschenkt. Der Herr ruft uns ins Abseits, nicht nur Sie, auch mich. Ich brauche mich heute nicht hinter den Schreibtisch zu setzen, nicht mit Problemen herumzuschlagen, sondern ich kann mit Ihnen über das Reich Gottes nachdenken. Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, dass sie mir diese Gelegenheit geschenkt haben. Denn: "Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott" (Joh 1,1). Wenn Gott Wort ist, dann ist er aussprechbar, dann kann ich kommunizieren, indem ich ihn höre: "Und sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund" (vgl. Mt 8,8).

Liebe Schwestern, liebe Brüder, jeder von uns ist Träger des Wortes Gottes, aber nicht nur für sich selbst, sondern immer auch für den anderen. Ich versuche das häufig so zu definieren: Dein Glaube ist nicht dein Glaube, dein Glaube ist mein Glaube. Und mein Glaube ist nicht mein Glaube, mein Glaube ist dein Glaube. Und wenn wir uns unseren Glauben in Glaubensgesprächen horizontal nicht zusprechen, zubeten oder zuhandeln, dann werden wir zu Dieben am Glauben des anderen. Wenn Eltern etwa mit ihren Kindern nicht mehr über Gott sprechen oder umgekehrt, die Kinder nicht mit den Eltern, dann demontieren sie den Glauben der Familie.

Wenn erwachsene Christen erst mit Gott über die Jugend sprechen, dann können sie auch dann mit der Jugend über Gott sprechen,

d.h. vor dem Gespräch steht das Gebet. Der Christus im anderen ist gewisser als der Christus in mir selbst. Daher brauche ich Ihr Christuszeugnis für meine eigene Christusvergewisserung. Und das Wort, dass dir weiterhilft, kannst du dir nie selbst sagen, es muss dir gesagt werden. Ich kann daher nicht bei mir selbst beichten, sondern muss zu einem anderen gehen, der mir horizontal die Vergebung Gottes zuspricht. So sind wir auch immer wieder aufeinander verwiesen, das Wort durch den anderen zu hören. Alle Menschheitsverführer haben ihr schauerliches Werk immer damit begonnen, den Menschen das Gehör zu rauben. Wenn jemand nicht mehr hört, dann weiß er nicht mehr, wohin er gehört oder zu wem er gehört und ist jedem Rattenfänger ausgeliefert. Ich denke immer noch mit Schrecken an die Sonntage im DDR-Leben! Am Sonntagvormittag gellten die Dorflautsprecher mit Kampfparolen und sozialistischen Kampfesliedern. Diese Sonntage waren bedrückender als die Werktage mit dem Klang der Fabriksirenen. Man wollte den Menschen das Gehör nehmen, damit sie nicht mehr wissen, zu wem sie gehören und wohin sie gehören, um sie verführbar zu machen.

Der Apostel Paulus sagt: "Der Glaube kommt vom Hören". Und die intensivste Form des Hörens heißt: "horchen". Das kann man sehr gut bei den Rehen betrachten. Wenn sie den Wald verlassen und das offene Feld betreten, bleiben sie stehen, recken den Kopf nach vorn und spitzen die Ohren, sie horchen. Leider ist uns diese Fähigkeit abhanden gekommen. Vielleicht hat das der Schöpfer so angerichtet aus Erbarmen mit uns Predigern, damit wir sonntags nicht wissen, wie viele Leute die Ohren angelegt haben und wie viele uns wirklich zuhören und die Ohren spitzen. Wer horcht - hört. Und wenn ich dem Wort Gottes gehorche, dann gehöre ich zu ihm.

Wie macht man denn das: richtig hören? Unsere Welt ist wie eine Kugel, die sich ständig dreht. Und wenn wir mit einem Zirkel unseren Lebenskreis auf dem Globus ausschneiden, dann ergibt
das eine Drehscheibe. Je schneller sich nun diese Drehscheibe dreht, desto stärker ist die Zentrifugalkraft, die uns von der Mitte in die Peripherie drängt. Am größten ist die Geschwindigkeit an der Peripherie. Wer dauernd an der Peripherie sitzt, wird daher verdreht und durchgedreht, wer dauernd bohrt, wird verbohrt. Und darum heißt das Gebot der Stunde: In die Mitte dieser Drehscheibe gehen, denn der Mittelpunkt ist der einzige Punkt, der sich auf einer Drehscheibe nicht dreht. Lateinisch heißt: "in die Mitte gehen" - "in medium ire". Davon kommt das Wort: Meditation - ich gehe in die Mitte. Das versuchen wir heute schon den ganzen Tag, und wir machen das gemeinsam. So geht es viel leichter, weil der eine den anderen mitzieht.
Es gibt ein kleines asketisches Büchlein aus dem 18. Jahrhundert, das so genannte "russische Pilgerbüchlein". Dort finden Sie Anweisungen für Christen mitten in der Welt, damit Sie Ihre Seele bei der Hektik des Alltags nicht verlieren.

Zweimal am Tag soll man folgende Ratschläge befolgen:

1.     Setze dich still hin!

2.     Falte die Hände!

3.     Schließe die Augen!

4.     Neige den Kopf!

5.     Leite deinen Verstand vom Kopf ins Herz!

Vom Verstand zum Herz ist ein weiter Weg. Wir sind heute schon gut dabei, diesen Weg miteinander zu gehen: "Und sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund."

2. Beten ist, um es ganz schlicht zu sagen: Lesung der Heiligen Schrift, Betrachtung und Gespräch.

Was meine ich damit? Es ist eigentlich in unserem Gottesverhältnis so, wie auch in einer Ehe. Ich habe das wie folgt erlebt: Ich kannte ein Ehepaar und durfte der Trauung assistieren. Ein halbes Jahr später komme ich dort in der Nähe vorbei und denke: Du machst jetzt einen unangemeldeten Besuch. Und ich merke, dort herrscht "dicke Luft".

Daher sagte ich zu den Beiden:
"Bei euch stimmt etwas nicht!"

Die Braut entgegnete mir:
"Du hast recht, bei uns stimmt etwas nicht."

Ich fragte:
"Ja, was denn?"


Dann erzählte sie mir Folgendes:
"Mein Mann hat viel Kraft und Zeit aufwenden müssen, um mich für sich zu erobern. Was waren das für schöne Abende, wenn wir uns getroffen haben. Wir haben uns in die Augen geschaut und konnten uns gar nicht aneinander satt sehen. Wir haben uns unterhalten, und im Nu war die Zeit um. Seit seiner Hochzeit ruht er sich von diesen Anstrengungen aus!"

Die Frau fuhr fort:
"Ich komme mir vor wie eine Witwe. Wenn ich mit ihm reden will, sagt er: Das können wir auf morgen verschieben. Ich ziehe mir manchmal ganz bewusst eine schöne Bluse an. Das sieht er gar nicht, denn er sieht nur noch in den Fernsehapparat."

Darauf wandte ich mich an den Ehemann und sagte:
"Das ist nicht ungefährlich! Wenn man nicht mehr miteinander spricht, hat man sich eines Tages nichts mehr zu sagen, man entfremdet sich und dann geht man fremd. Und wenn man sich nicht mehr anschaut, dann verliert man sich aus den Augen, man wird einander fremd und dann geht man in die Fremde."

Das Gleiche gilt für unsere Beziehung zu Gott, namentlich auch für die von uns Priestern.

Eine Priesterkatastrophe beginnt damit, dass er aufhört, mit Gott zu sprechen, dass er nicht mehr betet.

Er ist dann dem Leben Gottes entfremdet, und dann geht er fremd. Und wenn er Gott nicht mehr anschaut, wenn er ihn nicht mehr betrachtet, verliert er ihn aus den Augen, dann wird er Gott gegenüber fremd, und dann geht er in die Fremde. Als Christ zu leben heißt: Mit Gott sprechen und ihn betrachten.

Das ist sehr wichtig. Alles in dieser Welt ist dem Verschleiß, dem Verbrauch, der Abnutzung unterworfen. Sie brauchen sich ja nur einmal ihr Erstkommunionbild anzuschauen und dann neben sich den Spiegel zu halten: Da ist doch etwas passiert. Wir müssen permanent etwas für unsere Erneuerung tun. Der Apostel Paulus sagt, es gibt nur eine einzige Sünde, ein alter Mensch zu sein, nämlich ein Mensch, der nichts mehr von sich selbst und Gott erhofft. Viele haben bei uns die Dimension der Ewigkeit verloren. Wie haben alle mehr Zukunft als Gegenwart und Vergangenheit zusammen, d.h. wir haben alle viel mehr vor uns als bereits hinter uns. Wenn ich das nicht mehr sehe, dann habe ich keine Hoffnung mehr, dann bin ich alt.

Wenn ich die Dimension der Ewigkeit verliere, dann pervertieren die ewigen Seligkeiten zu irdischen Wohligkeiten, und die erste aller irdischen Wohligkeiten ist die Gesundheit. Ich erlebe es bei jedem Geburtstag, wenn man sagt:
"Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, alles Gute für die Zukunft, die Hauptsache ist aber die Gesundheit."
Wieso ist denn die Hauptsache die Gesundheit? Die Gesundheit ist ein sehr hoher Wert, aber doch nicht die Hauptsache. Weil wir jedoch die Ewigkeit verloren haben, haben wir die ewige Seligkeit verloren und sind nun den irdischen Wohligkeiten verfallen. Dann ist die erste irdische Wohligkeit die Gesundheit und daraus resultiert der alberne Gesundheits- und Jugendkult. Die Medizin gerät in die Wichtigkeit der Kirche, und der Arzt wird zum Priester. Hier liegt die letzte Wurzel für den Ärzteüberschuss und den Priestermangel. Wir sehnen uns nicht mehr nach der ewigen Seligkeit, sondern nur noch nach der irdischen Wohligkeit.

Darum ist es gerade für uns heutige Christen so wichtig, dass wir Gott nicht aus den Augen verlieren und damit die Ewigkeit, dass wir das Gespräch und den Blickkontakt mit ihm, die Betrachtung und das Gebet, nicht abreißen lassen. Der heutige Tag dient dazu, das wieder ein wenig einzuüben. Der Apostel Johannes schreibt in seinem ersten Brief: "Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir mit unseren Augen gesehen haben, was wir geschaut und was unsere Hände angefasst haben, das verkünden wir: das Wort des Lebens" (1 Joh 1.1). Wir müssen Ohrenzeugen, Augenzeugen und Handzeugen sein. Das ist unsere Berufung und als solche sind wir heute zusammen gekommen.

3. Das Evangelium ist nicht nur Historie, die uns sagt, was einmal war, es ist auch Prophetie, die uns zeigt, was heute ist.

Jeder Christ müsste seinen Platz im Neuen Testament gefunden haben. Mit wem kann er sich wo im Umkreis Jesu identifizieren? Mit Maria und Martha in Betanien, mit dem kleinen Jungen bei der wunderbaren Brotvermehrung, mit Simeon von Cyrene, mit der Schwiegermutter des Petrus, mit Zachäus auf dem Baum, etc.!

Jeder sollte seine Lieblingsstelle im Neuen Testament haben!

Jeder sollte seine Lieblingsstelle im Neuen Testament haben: Worte, die ihn zu einer bestimmten Situation besonders getroffen haben, ihm geholfen und ihn gestärkt haben! Für mich persönlich spielen die so genannten "Ich-bin-Worte" Jesu im Neuen Testament eine große Rolle. Was hat es mit ihnen auf sich?

Wir alle haben schon die Erfahrung gemacht, dass wir in einem verschlossenen Zimmer sitzen, und es klopft von außen an die Tür. Auf unsere Frage: "Wer ist da?" bekommen wir vom jenseits der Tür zu hören: "Ich bin’s!" Der vor der Tür Stehende setzt voraus, dass wir ihn kennen, dass uns der Klang seiner Stimme vertraut ist, dass er uns also gar nicht seinen eigenen Namen nennen braucht, dass es uns genügt, wenn er sich durch diese beiden kleinen Worte: "Ich bin’s" zu erkennen gibt.

Ähnliches geschieht, wenn wir den "Ich-bin-Worten" Jesu im Neuen Testament begegnen. Es gibt sie buchstäblich in der Kürze, wie sie der Besucher vor der Tür ausspricht, indem Jesus auf die Fragen der anderen antwortet: "Ich bin’s!" (Joh 18,5). Es gibt diese bedeutenden Worte aber auch in Verbindung mit Bildworten, indem etwa Jesus sagt: "Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben" (Joh 14,6); "Ich bin die Tür" (Joh 10,7); "Ich bin der gute Hirt" (Joh 16,11); "Ich bin das Brot des Lebens" (Joh 6,35); "Ich bin der wahre Weinstock" (Joh 15,1); etc.

Diese "Ich-bin-Worte" Jesus sind deswegen von ganz besonderer Bedeutung, weil sie an die Offenbarungsform Jahwes im Alten Testament anknüpfen. Nach der Gottesoffenbarung Jahwes am brennenden Dornbusch vor Mose wird Letzterer zu den Israeliten gesandt. Im dritten Kapitel des Buches Exodus, 13-14 Vers, heißt es wie folgt:
"Da sagte Mose zu Gott: Gut, ich werde also zu den Israeliten kommen und ihnen sagen: Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt. Da werden sie mich fragen: Wie heißt er? Was soll ich darauf sagen? Da antwortete Gott dem Mose: Ich bin, der Ich-bin-da. Und er fuhr fort: So sollst du zu den Israeliten sagen: Der Ich-bin-da hat mich zu euch gesandt."


Hier spricht also nicht einer, der wie die Propheten das Wort Gottes bezeugt, indem er sagt: So spricht der Herr, sondern hier spricht der Herr selbst zu den Menschen: "Amen, Amen, ich sage euch" (z.B. Joh 1,51). Es ist wie mit der verschlossenen Tür. Mose ist gleichsam im Zimmer, und Jahwe steht vor der Tür. Und indem Mose ruft: Wer bist du? Wer ist draußen?, erhält er die Antwort: Ich bin, der "Ich-bin". Wieso konnte er ihn als den erkennen, der wirklich war?

Gott hat den Menschen nach seinem Ebenbild und Gleichnis erschaffen. Das bedeutet aber, dass der Mensch gottgestaltig und damit gottfähig ist und Gott menschengestaltig ist, sodass es durch die Tür hindurch eine Verständigung gibt und der Mensch - in diesem Falle Mose - weiß, mit wem er es zu tun hat. Daran knüpft Jesus an, indem er ebenfalls auf die Frage der Menschen einfach antwortet: "Ich bin’s". Und er kann damit rechnen, dass er mit diesem Selbstzeugnis verstanden wird. Denn weil der Mensch gottgestaltig ist, konnte Gottes Sohn ein Mensch werden, aber Gott bleiben, sodass der Herr sagen kann: "Ich und der Vater sind eins" (Joh 10,30). So gibt also Jesus in seinen "Ich-bin-Worten" Auskunft über sich selbst und damit über den Vater im Heiligen Geist. Das ist auch für den Menschen verstehbar, weil der Mensch gottgestaltig und gottfähig ist, wie wir oben hörten.

4. Ein solches "Ich-bin-Wort" tritt uns in besonders eindrucksvoller Weise im Markusevangelium 6,45-52 entgegen.

Hier ist die Rede davon, dass die Jünger nach der wunderbaren Brotvermehrung in das Boot stiegen, um nach Betsaida voraus zu fahren, während er noch das Volk entlassen wollte. Das Boot befand sich mitten auf dem See, und die Bootsfahrer hatten Gegenwind. Sie mussten sich sehr anstrengen, um vorwärts zu kommen. Jesus geht zu ihnen über das Wasser. Und dann heißt es wörtlich: "Als sie ihn über den See gehen sahen, meinten sie, es sei ein Gespenst und schrieen auf. Alle sahen ihn und erschraken. Doch er begann mit ihnen zu reden und sagte: ‘Habt Vertrauen, ich bin es; fürchtet euch nicht!’ Dann stieg er zu ihnen ins Boot, und der Wind legte sich. Sie aber waren bestürzt und außer sich. Denn sie waren nicht zur Einsicht gekommen, als das mit den Broten geschah, ihr Herz war verstockt." (Vers 49-52).

Jesus gibt sich auf dem Wasser den Jüngern im Boot einfach zu erkennen durch sein Wort: "Ich bin es." Es ist aber gleichsam eingekleidet, indem er es einleitet mit dem Wort: "Habt Vertrauen" und es abschließt mit der Aufforderung: "Fürchtet euch nicht!". Wie der Schrifttext sagt, gingen den Aposteln jetzt erst die Augen auf oder ihr Herz wurde verständig, als er ihnen auf dem Wasser des Sees sein "Ich bin es" zurief, während sie bei dem Wunder der Brotvermehrung verstockt blieben.

5. Jesus zeigt sich hier nicht den Aposteln als einer, der ihnen über Gott etwas erzählen kann, sondern als Gott, der in seiner Person ihnen selbst gegenübertritt.

Wie Jahwe dem Moses gegenüber sagt: "Ich bin, der ich bin", so sagt er den Aposteln einfach: "Ich bin’s". Das ist heute für unseren Glauben die entscheidende Frage. Ist Jesus Christus Gott oder nur ein begnadeter Mensch?

Ist Jesus Christus Gott? Dann hat die Kirche recht, wenn sie sich definiert als der fortlebende Christus, d.h. als eine göttlich-menschliche Institution. Dann ist es richtig, dass der Papst unfehlbar ist, dass in der Eucharistie wirklich und wahrhaft Christus gegenwärtig ist, dass der Mensch in Jesus Christus eine unbegrenzte Zukunft hat durch die Teilnahme am göttlichen Leben, die uns durch Taufe und Firmung geschenkt worden ist.

Ist Christus aber nur ein Mensch, dann sind seine Ich-Worte eine maßlose Arroganz und eine geniale Täuschung. Dann ist die Kirche wirklich nur menschliches Werk, das nicht die Zeit überdauern wird. Wir können uns diesen Zusammenhang gar nicht klar genug vor Augen halten: Christus, der Sohn des lebendigen Gottes; Maria, Mutter Gottes; die Kirche der fortlebende Gottessohn auf Erden; der Christ, der vergöttlichte Mensch. Christus kann nur von sich allein sagen: "Ich bin das Leben". Wir dagegen können nur sagen: "Ich habe das Leben, empfangen von Gott, dem Schöpfer und von dem Sohn Gottes, dem Erlöser".

An dem "Ich-bin" hängt unser ganzer Glaube, unsere ganze Existenz.

6. Dieses "Ich-bin-Wort" beinhaltet eine ganz besondere Botschaft für uns.

Dass dieses "Ich-bin-Wort" Jesu auf den Wassern des Sees von Genesaret den Aposteln im Schiff die Angst vertrieb, weil sie ihn zuvor für ein Gespenst hielten, beinhaltet eine ganz besondere Botschaft für uns. In allem, was uns im Schiff der Kirche begegnet, ist der Herr gegenwärtig. Selbst in dem, was wie ein Gespenst aussieht und uns Angst macht, ist Christus anwesend. Darum ist das einleitende Wort zur "Ich-bin" Aussage Jesu: "Habt Vertrauen!" nicht ein frommer Vorspruch, sondern der Versuch Jesu, sie aus der Angst zu befreien. Angst ist immer ein Zeichen von zuviel Vertrauen auf sich selbst und ein Zeichen von zuwenig Vertrauen auf Gott. Darum trifft die ängstlichen Jünger im Boot die Aufforderung Jesu: "Habt Vertrauen!" Und der Grund dafür heißt: Ich bin es, der über das Wasser zu euch kommt. Wenn das aber so ist, schließt sich gleichsam - wie eine Schlussantiphon - die Aufforderung des Herrn an: "Fürchtet euch nicht!".

Das Fazit dieser Gottesbegegnung schreibt die große heilige Theresia in dem berühmten Wort nieder: "Nichts soll dich ängstigen, nichts dich erschrecken. Alles geht vorüber. Gott allein bleibt derselbe. Alles erreicht der Geduldige, und wer Gott hat, der hat alles. Gott allein genügt!" In den "Ich-bin-Worten" offenbart sich der Sohn Gottes wie Jahwe sich vor Mose im Alten Bund offenbart hat. Christus ist der Offenbarer des Offenbarers im Alten Testament. Wo er sich zeigt, dort wächst Vertrauen in den Herzen der Menschen zu diesem gegenwärtigen Gott und dort schwindet alle Furcht und Angst, selbst vor dem, was wie ein Gespenst aussieht und uns Angst einflößen könnte. Darum sagt Papst Johannes XXIII.: "Wer glaubt, zittert nicht", und darum trifft die Apostel auch immer wieder der Vorwurf Jesu: "Warum habt ihr solche Angst, ihr Kleingläubigen?" (Mt 8,26).

Die kleine heilige Theresia spricht dieselbe Wirklichkeit in einem anderen Bild aus, indem sie sagt:

"Was mich im Leben auch alles trifft, es ist immer deine gütige Hand, die mich ergreift. Aber deine Hand trägt drei verschiedene Handschuhe. Oft einen Eisenhandschuh, der sich kalt und hart anfühlt und unter dessen Druck man manchmal aufschreien möchte. Dann trägst du mitunter auch einen Lederhandschuh, der glatt und kalt und gefühllos ist. Man friert dabei, wenn uns deine Hand mit dem Lederhandschuh anrührt. Und dann trägst du mitunter auch einen Samthandschuh, der sich weich und wärmend um unsere Hand legt. Letzteren Handschuh scheinst du sehr zu schonen, während Handschuh Nr. 1 und 2 häufiger von dir gebraucht werden. Wahrscheinlich sind sie widerstandsfähiger. Gib mir aber, o Herr, die Gnade, dass ich ab und zu deinen Handschuh von deiner Hand ziehen darf, um deine Hand dankbar und liebevoll zu küssen, weil es immer gut ist, was deine Hand in meinem Leben - mit welchem Handschuh auch immer - tut."

Darum: Habt Vertrauen! Fürchtet euch nicht! Es ist seine Hand - Er ist’s.


+ Joachim Kardinal Meisner
Erzbischof von Köln