von Joachim
Kardinal Meisner beim Pontifikalamt zum Abschluss des Symposiums "Gottes
Wort für die Familien" in Salzburg am 6.04.2003
Liebe Schwestern,
liebe Brüder in Christus, dem Herrn!
Das Leben
und die Kultur in Europa sind heute weithin gekennzeichnet von der Abstraktion,
d.h.: Es fehlt der Zusammenhang. Was ich damit meine, möchte ich an einem Bild
veranschaulichen:
Ein Baum bildet einen großen Zusammenhang: Blätter hängen an den Stielen, die
Stiele sind verwachsen mit den Zweigen, die Zweige sind verbunden mit den
Ästen, die Äste werden gehalten von den Astgabeln, und die Astgabeln sind aufs
Innigste verwachsen mit dem Stamm. Der ganze Baum bildet einen großen
Zusammenhang: Eines hängt am anderen, sodass ein harmonischer Organismus
entsteht. Abstraktion hingegen bedeutet: abgeschnitten sein, abgesägt werden
und abgehackt sein. Wenn die Äste vom tragenden und zusammenhaltenden Stamm abgeschnitten
werden, dann wird aus dem Baum ein großer Holzhaufen, die Blätter welken, die
Stiele lösen sich von den Zweigen, die Zweige von den Ästen. Vom einst
harmonischen Organismus bleibt nur ein Torso, ein Chaos übrig. Die Zweige
liegen leblos, hoffnungslos und unfruchtbar nebeneinander. – Das ist ein Bild
für die Situation in unseren europäischen Gesellschaften. Wenn das Leben der
Menschen, der Tiere und der Pflanzen vom tragenden und zusammenhaltenden Stamm
– nämlich vom Schöpfergott – abgeschnitten wird, dann wird alles atomisiert,
vereinzelt. Übrig bleibt ein Torso, ein Chaos. Es wird alles leblos,
hoffnungslos, unfruchtbar.
Bevor ein
Mensch zur Welt kommt, lebt er unter dem Herzen der Mutter – verbunden durch
die Nabelschnur – mit dem mütterlichen Organismus in einer innigen Symbiose. Er
fühlt sich in dieser intimen Welt zu Hause. Er ist geborgen. Er wird geschützt.
Den Geburtsvorgang nennen wir bezeichnenderweise "Ent-Bindung".
Die Nabelschnur wird durchgeschnitten. Das Kind wird abstrakt. Es wird aus
seinem bisherigen biologischen und seelischen Zusammenhang herausgelöst. Und
darum ist die erste Lebensäußerung des Kindes ein Schrei, vielleicht ein
Angstschrei. Es ist abgeschnitten, ohne Bindungen. Es ist unverbunden, d.h. es
ist abstrakt.
Erziehung
bedeutet, wie schon das Wort sagt: Das Kind in neue Beziehungen, in neue
Relationen, in neue Verbindungen einzuführen. Die erste Beziehung, die das Kind
knüpft, ist die Beziehung zur Mutter und über die Mutter zum Vater. Und dann
sind die Eltern gleichsam die Dolmetscher des Daseins für ihr Kind. Hinter den
Eltern steht das ganze Dasein, die Welt in ihrer Vielfältigkeit. Vor den Eltern
steht das kleine Kind in seiner Abstraktheit und Bindungslosigkeit. Von der
Welt und dem Dasein kommt an das Kind nur das heran, was die Eltern an das Kind
heranlassen. Sie sind zunächst die einzigen Dolmetscher der Wirklichkeit für
ihr Kind. Die ersten Beziehungen und Verbindungen bleiben lebenslang für das
Kind von fundamentaler Bedeutung. Versäumen die Eltern, ihr Kind in die
wesentlichste Beziehung zu setzen, die es gibt, nämlich zu Gott, dann bleibt
ihr Kind auf Lebenszeit letztlich ein Waisenkind. Es gleicht den Blättern,
Zweigen, Ästen und Astgabeln, die von dem Stamm, von dem Stammvater, von dem
Schöpfergott losgeschnitten sind.
Die Beziehung zu Gott kann das Kind in europäischen Gesellschaften kaum noch in
der Öffentlichkeit finden, kaum noch im Kindergarten oder in der Schule. Das
Kind ist darin ganz und gar angewiesen auf die Eltern, dass die Eltern es
hineinführen in die wesentlichste und tragendste
Beziehung, nämlich in die Beziehung mit Gott. Treten die Eltern eines Tages aus
dem Gesichtskreis ihrer Kinder heraus - spätestens bei ihrem Tod –, dann sind
die Kinder zu einem Waisendasein verurteilt. Und gerade auch der erwachsene
Mensch braucht immer einen Vater, nämlich Gott-Vater, und er braucht auch immer
eine Mutter: die Mutter-Kirche, deren Ideal er in der Gottesmutter Maria sieht.
Damit wird
das Kind hineingebunden in das Mysterium des lebendigen Gottes. Das Gebet ist
der Ernstfall unseres Glaubens im Alltag, d.h. wir nehmen Gott nur so ernst, so
ernst wir das tägliche Beten nehmen. Ein Kind spürt sofort, ob Gott wirklich
ein wichtiger Ansprechpartner ist oder nur noch eine konventionelle Figur. Als
die Apostel Jesus beten sahen, baten sie ihn inständig: "Herr, lehre
uns beten!" (Lk 11,1). Wenn Kinder ihre Eltern beten sehen, sollten
sie von der gleichen Bitte bestimmt werden: Mutter, Vater, lehre mich beten! –
Vergessen wir nicht, eine arbeitende Hand bewegt höchstens Maschinen, betende
Hände aber bewegen das Herz Gottes, und damit bewegen sie letztlich die Welt.
In der
Biographie des Gründers der Steyler-Missionare, des
seligen Arnold Janssen, wird eine interessante Episode geschildert. Der Heilige
ist auf Heimaturlaub im Elternhaus, das der jüngste Bruder übernommen hat.
Dieser ist von Beruf ein Steinmetz. Und der selige Arnold Janssen beobachtet
seinen jüngeren Bruder, wie er vor einem Steinhaufen kniet und mit einem Hammer
Stein für Stein zerkleinert. Darauf sagt der Ältere dem Jüngeren: "Johannes,
so schnell wie du mit deinem Hammer die Steine öffnen kannst, so schnell möchte
ich einmal mit meinem Wort die Herzen der Menschen öffnen können."
Darauf erhält er die lächelnde Antwort: "Arnold, du arbeitest
wahrscheinlich zu wenig auf den Knien!"
Was ich unseren Kindern von Herzen wünsche, ist, dass sie Eltern haben, die
nicht nur für ihre Kinder mit den Händen arbeiten, sondern auch auf den Knien.
Wir nehmen Gott nur so ernst, wie unser tägliches Beten. Wir nehmen unsere
Sorge für unsere Kinder nur so ernst, wie unser Beten mit ihnen und für sie.
Sie bindet
das Kind unzertrennlich an das Herz Gottes. Jeder siebente Tag ist ein Sonntag.
Ein Siebentel unserer Lebenszeit stellen wir als Kinder des Lichtes unter den
Einfluss des auferstandenen Herrn. Tun wir das nicht, dann werden wir von
einer gottentleerten Welt aufgesaugt und gehen dabei unter. Am Sonntag aber
wiederholt sich das Wunder von Emmaus: "Brannte uns nicht das Herz in
der Brust, als er unterwegs mit uns redete und uns den Sinn der Schrift
erschloss?" (Lk 24,32). So lautet die Erfahrung der beiden Jünger von
damals. Und beim Brotbrechen "gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten
ihn" (Lk 24,31).
Der Sonntag mit dem Sonntagsgottesdienst im Zentrum ist der Ort, an dem uns
die Ohren aufgehen sollen für Gottes frohe Botschaft, an dem uns die Augen
aufgehen sollen für seine leibhaftige eucharistische Gegenwart, sodass auch uns
wieder das Herz im Leib zu brennen beginnen sollte: "Brannte uns nicht
das Herz in der Brust, als er unterwegs mit uns redete und uns den Sinn der
Schrift erschloss?" Den Sonntag zu verlieren bedeutet hingegen: alles
zu verlieren. Das ist die Erfahrung des christlichen Volkes. Es ist hierbei wie
bei einer Überlandleitung. Stehen die tragenden Masten zu weit auseinander,
dann bekommt die Stromleitung Erdberührung, und dann geht das Licht aus. Liegen
unsere Begegnungen mit dem österlichen Herrn in der sonntäglichen Messfeier
länger auseinander als sieben Tage, dann bekommt unsere Lebensleitung ebenfalls
Erdberührung, dann geht das Licht des Glaubens aus. Die Feier des Sonntags ist
ein Band, das uns unlösbar mit dem Herzen Gottes verbindet.
Hier sollen
sie auch mit dem Gotteshaus vertraut werden: Am Taufstein erfahren sie die
Quelle des Lebens; am Ambo das Wort des Lebens; am Altar das Brot des Lebens;
am Tabernakel die Gegenwart des Lebens; am Beichtstuhl die Heilung des Lebens.
Die Kinder müssen erfahren und berühren können, dass es in der Kirche immer um
ihr Leben mit Christus geht. Darüber hinaus ist es ein Gebot der Stunde, dass
christliche Familien über die Pfarreien hinaus sich mit anderen christlichen
Familien vernetzen. Dazu helfen heute sehr geistliche Gemeinschaften und
spirituelle Gruppen. Unsere Eltern und Kinder brauchen ein solches
Beziehungsgeflecht, in dem ein vom Glauben der Kirche geprägtes Milieu
entsteht, sodass sie hier für ihren Weltdienst Stärkung und Motivation
erfahren. Vergessen wir nicht, unsere Kinder müssen in unserer Umwelt
weitgehend gegen den Strom schwimmen. In der Öffentlichkeit erleben sie kaum
Hilfen und Stützen für ihren Weg in der Christusnachfolge.
Man kann aber nicht immer gegen die Trends angehen, nicht immer gegen den Strom
schwimmen, denn dann geht einem eines Tages die Puste aus.
Wir brauchen
gleichsam ein Bassin, in dem wir mit dem Strom schwimmen können,
in dem wir auch von den anderen mitgetragen und mitgenommen werden.
Ein solches Bassin sollte die eigene Familie, die Verwandtschaft,
die Pfarrgemeinde und der Familienkreis sein.
Wenn ich an
den Einzelnen von Euch die Frage stelle: Wo hast du deinen Glauben her?, wird niemand vertikal zum Himmel aufzeigen und sagen: Mir
ist das Wort Gottes vom Himmel zugefallen!, sondern er wird immer in die
horizontale Linie auf diesen oder jenen Menschen weisen, der ihm das Wort
Gottes horizontal zugesprochen hat.
Jeder von uns trägt das Wort Gottes in sich, aber nicht für sich, sondern immer
für den anderen. Gott hat diese Horizontalität der
Gnade gewollt. Darauf basiert unser Familienleben. Unsere Kinder brauchen die
gläubige Gemeinschaft von Mutter und Vater, von Geschwistern mit den Eltern,
von Verwandten und Freunden, schließlich die Gemeinschaft einer lebendigen
Pfarrfamilie und Familiengruppe, wo ihm die vielen anderen das Wort Gottes
zusprechen. Als Gleichberufene, als Gleichbegnadete, als Gleichbeschenkte, als
Menschen, die auf dem gleichen Weg gehen, sollten wir uns einander bei der Hand
nehmen, um zusammen zum gemeinsamen Ziel zu gelangen.
Wir bereiten
uns in Köln schon sehr intensiv auf den Weltjugendtag im August 2005 vor, bei
dem wir mit einer Million junger Menschen aus aller Welt rechnen dürfen, die
sich mit dem Heiligen Vater in der Domstadt unter dem Leitwort: "Wir
sind gekommen, um ihn anzubeten" versammeln werden. Das gemeinsame
Gebet ist wie Zement, der eine Familie und Gemeinschaft zusammen bindet und
zusammen hält, komme, was da kommen mag. Die gemeinsame Feier des Sonntags ist
der gemeinsame Lebensraum mit Christus in der Mitte. Und die christliche
Gemeinde ist der Brückenkopf, der unsere Familien von der Christuserfahrung in
die christliche Mission überführt. Unsere Umwelt ist abstrakt abgeschnitten von
dem sie tragenden Grund, nämlich vom lebendigen Gott. Unsere Berufung ist es,
unsere Kinder auf dem Grund zu verwurzeln, der niemals wankt, der ihnen eine
unbegrenzte Zukunft gibt. Das ist der anfanglose und
ewige Gott selbst! Amen.
+ Joachim Kardinal Meisner
Erzbischof von Köln