"Der 8. Schöpfungstag" -
Diözesanbischof Klaus Küng:

 

1. An der Schwelle einer neuen Entwicklung

         Durch die neuen Erkenntnisse im Zusammenhang mit künstlicher Befruchtung, mit der Entstehung des Lebens und seiner Entfaltung in den ersten Tagen, Wochen und Monaten, durch die Entdeckung der Chromosomen, die fast zur Gänze erreichte Entschlüsselung des menschlichen Genoms, durch die Fortschritte in der Gentechnik und der Genanalyse, durch die Erfahrungen mit Organtransplantationen und durch die neuen Einsichten bezüglich Stammzellen befinden wir uns offenbar an der Schwelle eines neuen Entwicklungsschubes der Medizin und anderer Bereiche der Naturwissenschaften und Technik.

Neue Möglichkeiten

         Es eröffnen sich neue Möglichkeiten der Diagnose wie z.B. zur frühzeitigen Erkennung von Erb- und anderen Krankheiten bzw. Krankheitsgefährdungen und neue Möglichkeiten der Therapie. Durch Klonen und andere Errungenschaften der Biotechnik können neue Medikamente hergestellt werden (wie z.B. Hormone, Interferon, Impfstoffe, Faktor 8 bei Hämophilie usw.). Somatische Gentherapie, Keimbahngentherapie, erschließen neue Perspektiven ärztlichen Eingreifens und die vielleicht schon bald realisierbare Entwicklung von Organen aus Stammzellen, kann zur Erfüllung bringen, was man vor nicht allzu langer Zeit nicht einmal zu träumen wagte.

         Im Bereich der Agrikultur und der Tierzüchtung liegen schon relativ viele Er-gebnisse als Frucht der Biotechnologie vor. Trotz aller Einwände der Umweltschützer führen wirtschaftliche Interessen, der Forschungsdrang der Wissenschaftler und wohl auch die Hoffnung, mit besseren Produkten mancher Not wirksamer begegnen zu können bzw. neue Ressourcen zu gewinnen oder diese besser zu nützen, zu einer anscheinend unaufhaltsam fortschreitenden Entwicklung.

Neue Gefährdungen

         Es bestehen bei diesen neuen Entwicklungen auch neue Gefährdungen. Besonders alarmierend sind jene, die den Menschen betreffen.

         Wer sich mit der derzeit in fast allen zivilisierten Ländern üblichen Praxis der Schwangerschaftsuntersuchungen befaßt, die Entwicklungen bezüglich künstlicher Befruchtung und den Einsatz von embryonalem Gewebe verfolgt, empfängt unwillkürlich den Eindruck, daß nach dem derzeitigen Usus — abgesehen von den Abtreibungen, die aus persönlichen Gründen durchgeführt werden — mit menschlichem Leben sehr unbekümmert umgegangen wird. Da ist von gezielten und selektiven Fetoziden die Rede. Die Diagnose bzw. schon allein der geringste Verdacht auf das Vorliegen einer Mißbildung bedeuten meist ein Todesurteil für das Kind. Daß zur „Qualitätssicherung" nur Embryonen mit tadellosem Genbefund eine Chance haben, eingepflanzt zu werden, daß zur besseren Effizienz mehrere Eizellen zugleich transferiert und nachher überschüssige eliminiert oder für wissenschaftliche Zwecke freigegeben werden, scheint bei einer offenbar nicht wenig verbreiteten Mentalität unter Ärzten Routine zu sein. Immer häufiger wird in manchen Ländern auch der Elternwunsch, ob Bub oder Mädchen, berücksichtigt. Der Embryo muß dann sterben, wenn er nicht das gewünschte Geschlecht hat. Da gibt es Gewebebanken mit fetalem Gewebe, mit genauer Angabe des Alters des Fetus, dem sie entnommen wurden, und Medikamente, die aus embryonalen Substanzen hergestellt worden sind.

         Es ist verwunderlich, daß trotz der genauen Kenntnisse in Bezug auf die menschlichen Keimzellen und ihre Befruchtung, trotz des Wissens um die kontinuierliche Entwicklung des Kindes aus der befruchteten Eizelle unlogische Bezeichnungen und Unterscheidungen unter Ärzten eingeführt wurden: es hat sich eingebürgert, erst nach erfolgter Einnistung in der Gebärmutter vom Embryo zu sprechen. Vorher benennt man das sich entwickelnde menschliche Leben als „Zellhaufen", manchmal auch als „Präembryo". Die Absicht, die sich dahinter verbirgt, ist nicht schwer erkennbar: Man möchte die Durchführung von Fetoziden, von Selektionsverfahren bei künstlicher Befruchtung, die Eliminierung von befruchteten Eizellen oder ihre Verwendung für Experimente als harmlose Maßnahmen erscheinen lassen und die Wirksamkeit der Spirale, den nidationshemmenden Effekt der Pille bzw. die Pille danach als Empfängnisverhütung ohne Verstoß gegen die Integrität des Lebens darstellen. Durch die Kenntnisse im Zusammenhang mit den Chromosomen ist unser Wissen klarer denn je, daß nach erfolgter Verschmelzung der Gameten die Einzelperson mit all ihren unaustauschbaren Eigenschaften angelegt und in ihrer Entwicklung festgelegt ist.

         Nicht verwunderlich ist dagegen, daß auch bezüglich des Lebensendes die Frage nach der Erlaubtheit des menschlichen Eingreifens im Sinne einer aktiven Sterbehilfe laut wird. Darf der Mensch seinem Leben nicht ein Ende setzen, wenn es nicht mehr „lebenswert" ist, wenn gewisse Voraussetzungen, eine minimale „Lebensqualität" nicht mehr gegeben sind? Würden nicht auf diese Weise persönliche, soziale, auch finanzielle Belastungen vermieden? Die Euthanasiediskussion ist eine logische Folge der bei vielen Menschen veränderten Einstellung zum Leben.

         Klonierungen, Eingriffe in die menschliche Keimbahn, Züchtungen von Menschen neuer Art rücken Horrorszenarien in den Bereich der Möglichkeit. Klonierungen zur Absicherung von Organersatz, vielleicht auch zur Erzeugung von Medikamenten werden bereits als erwägenswert betrachtet. Der Bedarf an Organen ist groß, wird immer noch größer und vielfältiger, denn Organtransplantationen sind zur Routine geworden. Vieles, was noch vor 30 Jahren als absurd bezeichnet worden wäre, ist es heute nicht mehr, und es finden sich immer solche, die sich sagen: Warum nicht?

         Andere Fragen stehen mit der Identität und Integrität der menschlichen Person im Zusammenhang sowie mit der Bewahrung der Schöpfung.

         Der Arzt, der eine künstliche Befruchtung im Reagenzglas durchführt, mag zwar — ich weiß nicht wie das ist — ein beinahe göttliches Gefühl haben, wenn er die Gameten auswählt, die sich miteinander vereinen sollen, aber ich frage mich: Wird es für den erwachsen werdenden oder bereits erwachsenen Menschen nicht vielleicht doch zu einem Problem werden, wenn ihm/ihr Zweifel kommen, ob nicht der Arzt bei der Befruchtung die Eizelle oder den Samen verwechselt hat? Ich habe im Laufe der Jahre mit mehreren Personen zu tun gehabt, die sehr darunter gelitten haben, daß sie nicht mit Sicherheit wußten, wer ihr wirklicher Vater ist.

         Beim natürlichen Vorgang einer geschlechtlichen Vereinigung zwischen Mann und Frau kommt jedenfalls unter Millionen von Samenzellen nur eine bestimmte zum Zug, ohne daß dies von menschlicher Hand beeinflußt werden könnte. Dies mag manchem als nebensächlich erscheinen, und doch zeigt es, wie konkret und manipulativ der Arzt hier eingreift, wenn er im Reagenzglas befruchtet.

         Andere wichtige Fragen ergeben sich im Zusammenhang mit Genanalyse und Eingriffen in die menschlichen Keimbahnen, auf die ich im vorgegebenen Zeitrahmen dieses Vortrags nicht eingehen kann.

         Und bezüglich Bewahrung der Schöpfung? Auch in diesem Zusammenhang sind Fragen offen. Wer kann die Auswirkungen mancher biotechnisch herbeigeführter Veränderungen an Tieren und Pflanzen abschätzen? Wer weiß, welche Folgen sich im Ökosystem einstellen, und ob durch neuartige Nahrungsmittel nicht doch die Gesundheit von Tier und Mensch beeinträchtigt wird?

2. Weg in den Abgrund?

         Aus allen diesen Erwägungen der positiven und negativen Aspekte der jüngsten Entwicklungen in Medizin, Biologie und Umwelt durch die neuesten Errungenschaften der Gentechnik ergeben sich m.E. zwei grundlegende Optionen:

Muß wegen der bestehenden Gefahren und Gefährdungen jede Forschung mit Hilfe der Gentechnik abgelehnt werden, obwohl manche oder sogar große Fortschritte bezüglich Ressourcen an Nahrungsmitteln, neuen therapeutischen Möglichkeiten usw. zu erreichen wären? Auf diese Frage einfach mit ‚nein’ zu antworten, wäre nicht nur utopisch, weil die Entwicklung sicher weiter geht, meines Erachtens wäre es — wenn die Antwort undifferenziert erfolgt — auch vom ethischen Standpunkt aus falsch.

Darf der Mensch also alles tun, was er kann? Diesbezüglich ist tatsächlich ein klares ‚nein’ die einzig mögliche Antwort.

         Im ersten Buch der Bibel, im Buch Genesis, wird uns berichtet, daß der Mensch, der als Gottes Abbild erschaffen wurde im Zusammenhang mit der Schöpfung, von Gott den Auftrag erhalten hat: „Seid fruchtbar, und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch, und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen" (Gen 1, 27-29). Es darf nicht übersehen werden: Der Mensch wird durch diesen Auftrag noch lange nicht zum Schöpfer, von dem alles abhängt. Schon im Paradies gibt es einen Baum, von dem er nicht essen darf (vgl. Gen 2, 17). In der Schöpfung gelten gewisse „Gesetze", die sich dem Zugriff des Menschen entziehen, die gelten, ob sie von ihm beachtet werden oder nicht. Wenn der Mensch diese „Gesetze" nicht beachtet, dann hat dies entsprechende Folgen. Es gehört freilich von Anfang an zur Grundversuchung des Menschen, sich über alle Schranken — auch über die von Gott gesetzten — hinwegzusetzen. So geschieht es bereits bei Adam und Eva. Da sie wie Gott werden, gut und böse erkennen möchten, essen sie von den Früchten des Baumes, der ihnen verboten ist (vgl. Gen 3, 6). Da gingen ihnen die Augen auf. „Sie erkannten, daß sie nackt waren" (Gen 3, 7).

         Ein anderes Beispiel ist der Turmbau zu Babel. Genesis berichtet: „Sie sagten zueinander: Auf, formen wir Lehmziegel, und brennen wir sie zu Backsteinen. So dienten ihnen gebrannte Ziegel als Steine und Erdpech als Mörtel. Dann sagten sie: Auf, bauen wir uns eine Stadt und einen Turm mit einer Spitze bis zum Himmel, und machen wir uns damit einen Namen, dann werden wir uns nicht über die ganze Erde zerstreuen" (Gen 11, 3-4). Die Hybris führt den Menschen immer wieder in Versuchung, sich als Gott zu versuchen, oder wenigstens als Halbgott, heute mehr denn je. Das Fortschreiten der Erkenntnis und der Technik läßt als verlockend erscheinen, alles, was den Menschen betrifft, in den Griff zu bekommen: nicht nur die Frage der Armut und der anderen Nöte in der Welt, sondern insbesondere den Anfang und das Ende des menschlichen Lebens, die Fortpflanzung, die Veranlagungen des einzelnen und der Völker, die Entwicklungen der Gesellschaft und ihrer Lebensbedingungen. Im Vordergrund stehen Abwägungen der Nützlichkeit, Einschätzungen des Lebenswertes, Projekte einer neuen Welt.

 

         Es stellen sich dabei große Fragen: Welche Leitlinien sind zu beachten, damit die erstrebten Entwicklungen sich positiv auswirken? Wie erkennen, was erlaubt und gut ist? Können Einzelpersonen oder mehr oder weniger kleine Gruppen von Personen in irgend einer Weise auf die im Gang befindlichen Entwicklungen Einfluß nehmen? Oder muß man einfach zuschauen, wie es weitergeht? Kann man als Einzelperson etwas dafür oder dagegen tun?

3. Grundlegende Leitlinien

Um diesen Problemen verantwortungsbewußt zu begegnen, scheint es mir notwendig, einige grundlegende Aspekte des Menschseins vor Augen zu haben. Dazu gehören

a.    der Wert und die Bedeutung des menschlichen Lebens — oder anders gesagt: die Anerkennung Gottes.

Der Mensch hat kein absolutes Verfügungsrecht über sein eigenes Leben oder das eines anderen. Das Leben ist ein Geschenk, das wir empfangen haben. Mit ihm verbindet sich — wie Papst Johannes Paul II. es oft gerne ausdrückt — „ein Vorhaben Gottes". Damit ist gemeint, daß sein Ziel über das jetzige Dasein hinausreicht. Aus dieser Einsicht leitet sich das Gebot Gottes ab: „Du sollst nicht töten."

Sie werden vielleicht sagen: Diese Auffassung ist durch eine bestimmte Glaubenshaltung bedingt. Wer nicht an Gott glaubt, ist nicht unbedingt daran gebunden.

Es ist wahr, daß der Glaube an Gott die beste Voraussetzung vermittelt, um das Geheimnis des Menschen und seines Lebens zu begreifen. Ohne diesen Glauben ist es vor allem in Grenzsituationen zumindest in Bezug auf sich selbst und in Bezug auf andere, die selbst den Wunsch äußern, sterben zu wollen, schwerer, daran festzuhalten, daß es niemals erlaubt ist, einen Unschuldigen zu töten. Es gibt aber, auch ohne Zuhilfenahme des Glaubens, gute Gründe, die bewußt machen, daß wir über unser Leben oder das eines anderen niemals einfach verfügen dürfen. Dafür wäre freilich ein längerer Diskurs nötig. Auch für den Nichtglaubenden steht wohl außer Frage, daß das Recht auf Leben das grundlegendste Recht jedes Menschen ist.

Und was ohne jeden Zweifel klar ist: die Unterscheidungen, die sich auf verschiedene Phasen der Entwicklung nach der Befruchtung einer Eizelle beziehen — „Zellhaufen", „Präembryo", „Embryo" — sind künstlich und haben keinerlei wissenschaftliche Berechtigung. Denn es ist eindeutig erwiesen, daß sich der Mensch kontinuierlich aus der befruchteten Eizelle entwickelt. Bei jeder Vernichtung einer befruchteten Eizelle oder eines menschlichen Keimes in einer der darauffolgenden Entwicklungsstadien ist davon auszugehen, daß da ein Mensch ist (oder jedenfalls sein kann), der getötet wird. Und die Verwendung eines Embryo für Forschungen gleicht — so unangenehm ein solcher Vergleich klingen mag — den Menschenexperimenten in nationalsozialistischen Horrorlagern. Da besteht kein wesentlicher Unterschied. Ähnlich verhält es sich bei selektiven oder gezieltem Fetozid: So wie damals bei Eintreffen von Häftlingen von einem Arzt die arbeitsfähigen aussortiert und die anderen zum Vergasen freigegeben wurden, geschieht es auch jetzt.

Auch die Gewinnung und Verwendung von fetalem Gewebe aus abgetriebenen Feten ist nicht zu rechtfertigen. Es handelt sich zwar nicht um die gleiche Problematik wie bei Verwendung von Embryonen, weil die Kinder, denen das Gewebe entnommen wird, bereits tot sind, aber es wird doch zu einer Art der Mitwirkung bei Abtreibungen. Ich empfinde es auch als schrecklich, wenn ein Parkinsonkranker denken muß, daß für seine Therapie 6 — 7 Embryonengehirne nötig sind. Dazu kommt noch, daß der Therapieerfolg gar nicht so großartig ist, wie man eine Zeitlang meinte.

Ich vernachlässige die Frage der Euthanasie, auch wenn sie hier eigentlich ebenfalls zu behandeln wäre. Ich möchte mich nur darauf beschränken festzustellen: Der Mensch muß nicht immer alle außerordentlichen, heute zur Verfügung stehenden Mittel und Methoden zur Lebensverlängerung anwenden bzw. zur Anwendung bringen lassen, aber niemals darf er sich das Leben nehmen; aktive „Sterbehilfe" ist niemals erlaubt.

b.    Die Anerkennung des Wertes und der Würde der menschlichen Person

Jeder Mensch ist einmalig, unaustauschbar, unwiederholbar. Die Würde des Menschen wurzelt in seiner Erschaffung nach Gottes Bild und Ähnlichkeit. Der christliche Glaube besagt, daß seine Berufung in der Seligkeit zur Vollendung kommt. Aufgabe des Menschen ist es, in Freiheit auf diese Vollendung zuzugehen.

Sie werden sagen: Das sind wieder Glaubenssätze. Der Glaube an Gott und seine Offenbarung vermittelt in der Tat den tiefsten Einblick in die Zusammenhänge des menschlichen Lebens. Diese sind aber auch durch natürliche Gründe erfaßbar.

Jeder einzelne Mensch ist ein Wert für sich. Das gilt für kranke und behinderte, alte und schwache Menschen, auch für Embryonen und, falls sie entstehen sollten, für Geklonte. Wegen seiner Einmaligkeit und besonderen Bestimmung — für das ewige Leben — darf kein Mensch so wie eine Sache oder wie ein Tier zugunsten anderer Menschen instrumentalisiert werden, auch dann nicht, wenn die Absicht in Bezug auf diesen anderen an sich eine gute wäre (wie z.B. seine Heilung erstreben).

Wenn Embryonen zur Gewinnung von fetalem Gewebe, von Stammzellen oder für Experimente verwendet werden, ist das ein Vergehen, mag die Absicht noch so sehr darin bestehen, wissenschaftliche Fortschritte zu erzielen oder bestimmten Personen zu helfen. Ebenso wäre die Klonierung zur Schaffung eines Organersatzes ethisch verwerflich.

Andererseits scheint mir ein Eingriff in die menschliche Keimbahn bei Vorliegen einer rein therapeutischen Absicht, sofern ein solcher Eingriff keinen Verstoß gegen menschliches Leben voraussetzt und eine entsprechende minimale Sicherheit vorliegt, - jedenfalls theoretisch — ethisch vertretbar: der Mensch würde durch die Heilung in seinem Gottesabbildcharakter bestärkt. Ganz anders zu beurteilen wäre eine damit verbundene „Züchtungsabsicht". Ähnliches scheint mir bezüglich Stammzellentherapie zu gelten, sofern sie von einem Erwachsenen, d.h. unter Beachtung der Integrität des Lebens — gewonnen werden.

c.     Die Bedeutung von Freiheit und Verantwortung

Je stärker ein medizinischer Eingriff die Kernbereiche der Person betrifft, persönliche Geheimnisse für andere zugänglich macht, Veränderungen der Persönlichkeit hervorruft, umso wichtiger ist die Achtung der Freiheit des einzelnen und umso größer die Verantwortung aller Beteiligten. So kann z.B. auf Vorliegen einer Organverfügung seitens des Patienten, dem das Organ entnommen werden soll, oder im Falle seiner Unfähigkeit, seitens seiner nächsten Verwandten nicht verzichtet werden. Bei einem Eingriff in die Keimbahn wird die Einwilligung des Patienten ebenfalls von größter Bedeutung sein.

Niemand darf zu einer außerordentlichen Therapie gezwungen werden, wenn er sie nicht haben möchte, und kein Arzt darf darauf verpflichtet werden, Eingriffe durchzuführen, die er nach seinem Gewissen nicht verantworten kann.

d.    Die Grenzen der Naturwissenschaft

Von größter Bedeutung ist das Bewußtsein, daß die naturwissenschaftliche Methode, auch dann, wenn sie noch so hoch entwickelt und durch modernste Technik unterstützt wird, das Geheimnis des Menschen nicht zu lüften vermag.

Auch wenn das menschliche Genom zu 100 % entschlüsselt sein wird, der Mensch bleibt mit seinem Verstand und seinem Willen, seiner Freiheit und Verantwortung, seiner Fähigkeit zu Liebe und Haß ein Geheimnis. Und selbst wenn es zu Klonierungen kommen sollte, wird sich der Mensch, der so entstanden ist, nicht unbedingt gleich entwickeln, wie jener, der die gleiche Erbmasse besitzt: die Lebensumstände sind wohl kaum genau die gleichen, die Gene determinieren nicht zur Gänze den Menschen, die Entscheidungen können unterschiedlich ausfallen. Das beobachtet man auch bei eineiigen Zwillingen.

Das Entstehen des Menschen wird immer ein Geheimnis bleiben und auch sein Tod. Wir kennen nur Symptome, Hinweise auf die entsprechenden Vorgänge, die ganze Realität ist aber nicht faßbar.

Die Verantwortung ist bei Anwendung der neuen Techniken in Bezug auf Schöpfung und den Menschen groß, weil sein Eingreifen sehr schwerwiegende Folgen haben kann und insbesondere die Langzeitfolgen kaum abschätzbar sind.

4. Folgerungen

         In Hinblick auf die neuen Möglichkeiten der Gentechnologie von einem 8. Schöpfungstag zu sprechen, scheint mir zwar vom Standpunkt der Journalistik attraktiv, in Wirklichkeit geht es darum, daß der Mensch seine Intelligenz und alle seine Fähigkeiten nützt, um die Schöpfung zu bewahren, ihre Ressourcen nicht zu Lasten der Nachkommen zu vergeuden, sondern gut zu nützen bzw. neue Ressourcen zu finden; es geht darum, bessere Therapien und Heilmittel für den Menschen zu finden immer im Bewußtsein, daß der Mensch nicht alles, was er tun kann, auch tun darf. Das bedeutet nicht eine neue Schöpfung! Wenn sich der Mensch über gewisse Gesetzmäßigkeiten, die in der Schöpfung selbst, insbesondere auch in der Natur des Menschen verankert sind, hinwegsetzt, dann kann sich das für ihn und die Welt schlimm auswirken.

5. Was kann der Einzelne angesichts dieser Entwicklungen tun?

         Es ist wohl davon auszugehen, daß manche Menschen der Versuchung nicht widerstehen werden, gewisse Forschungen mit allen Mitteln voranzutreiben, wenn sie sich davon Erfolg erwarten.

         Der Einzelne sollte sich aber sagen: ich werde nicht tun, was nicht verantwortbar ist! Heute muß sich ein Forscher, ein Arzt, ein Techniker sehr wohl überlegen, bei welchen Forschungsprojekten er mitwirkt, welche ärztlichen Handlungen er durchführt oder wo er aus Gewissensgründen sein Mittun verweigert. Dort, wo es um das Gebot geht: ‚Du sollst nicht töten’, wo die Integrität der Person, ihre Freiheit und Würde nicht beachtet werden, gibt es keine Wenn und Aber. Auch als Patienten werden wir uns heute ein Urteil bilden müssen, welche Arten der Therapie wir angewendet wissen wollen und was wir ablehnen. Ich halte es auch für angebracht, Verfügungen zu treffen für den Fall, daß wir nicht mehr „capax" sein sollten.

         Wichtig scheint mir auch, gewisse Demaskierungen dort vorzunehmen, wo Verschleierungen stattfinden. Das menschliche Leben ist vom Augenblick der Empfängnis an bis zum natürlichen Tod zu achten, Begriffsverwirrungen zur Beschönigung von ethisch verwerflichen Handlungen dürfen nicht geduldet werden. Dort, wo finanzielle Interessen oder Fragen des Prestiges oder vielleicht eine Art Pantokrator-Mentalität Triebfedern der Handlungen sind, sollten wir keine Hemmung haben, die nötigen Anfragen mit aller Offenheit zu stellen.

         Der Gesetzgeber darf nicht aus seiner Verantwortung entlassen werden. Gerade in Anbetracht der großen Gefährdungen, die ohne Zweifel vorhanden sind, ist es notwendig, die Stimme warnend zu erheben, die Öffentlichkeit aufmerksam zu machen und alle Mittel einzusetzen, um zu erreichen, daß geeignete gesetzliche Maßnahmen veranlaßt werden.

 

Diözesanbischof Klaus Küng
2.11.2000

 Predigt - Ostersonntag 23.4.2000