Der Titel des Vortrags lautet „Berufen zur Liebe“. Eine allererste Erwägung könnte schon darin bestehen zu überlegen, ob dieser Titel bewusst so gewählt wurde: „Berufung zur Liebe“, also zu „der Liebe“, Liebe in Einzahl, gemeint ist „die Liebe schlechthin“, oder ob man besser geschrieben hätte: „Berufen zu Liebe“, gemeint wäre ein subjektiver Zustand, der bei jedem Menschen, der liebt, verschieden sein wird. Ich hoffe, dass sich aus dem Inhalt des Vortrags eine Bestätigung der Richtigkeit des gewählten Titels ergibt.
Erstes Beispiel: Eines Tages suchte mich ein stattlicher junger Mann
auf, der einer sehr bekannten, wohlhabenden Familie entstammte, intelligent,
mit gutem Auftreten, sympathisch. Er verblüffte mich mit der Frage, was meiner
Meinung nach die Aussage der Heiligen Schrift bedeutet: „Du sollst den Herrn,
deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen
Gedanken“ ... und „du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Mt 22,
37).
Ich fragte ihn, worauf er hinaus wolle. Er erklärte dann (er bezog sich auf
seine Familie): Sie gehen am Sonntag zur Messe, sitzen in der ersten Reihe,
empfangen die Sakramente, stehen überall in hohem Ansehen, aber es geht ihnen
im Grunde genommen nur darum, noch mehr Geld anzuhäufen, sich noch mehr
leisten zu können und in allem das Beste zu haben. Er schilderte dann seine
Situation: er sollte im Betrieb der Eltern einsteigen, sich ihren
Vorstellungen unterordnen und fragte sich: Wozu das Ganze? Nach dieser
Darstellung begannen wir dann miteinander darüber zu reden, was eigentlich
Liebe, was das Ziel des Menschen ist, und worauf es letztlich ankommt.
Das zweite Beispiel bezieht sich auf eine Frau, die sich in einen
Priester verliebt hatte. Der Priester wollte in keiner Weise sein Priesteramt
aufgeben. Sie sagte: „Liebe ist das Höchste. Du stellst mich auf die Seite.
Wie kannst du mir das antun?“ Sie war trostlos, auch ihm ist es schwer
gefallen, aber er ist auf seinem Weg geblieben. – Was ist Liebe? Was ist die
Liebe? Und auf beiden Wegen – in Ehe und Zölibat ist das letzte Ziel das ewige
Leben, die unendliche Liebe in Gott.
Das dritte Beispiel: Eine verheiratete Frau ist unglücklich. Sie sagt, sie habe ihren Mann am Anfang wirklich geliebt, er sei aber sehr bald untreu gewesen; sie habe mehrmals versucht, ihm zu verzeihen und ihm eine neue Chance zu geben; er sei in der Tat bei ihr geblieben, aber seit längerem sei es, als wäre in ihrem Inneren etwas end-gültig zerbrochen. Es sei nichts mehr da. Was ist Liebe?
Eine gute Frage. Viele Bücher wurden darüber geschrieben. Wir reden zwar
ständig über Liebe, aber es ist schwierig, ja unmöglich, in wenigen Worten zu
sagen, was Liebe ist. Das Wort ist zudem abgebraucht, trotzdem aber
unersetzbar.
In Anlehnung an die Darlegungen Josef Piepers „Über die Liebe“ (Gösel-Verlag,
6. Auflage, vgl. Seite 38) könnte man sagen:
Die Liebe ist etwas, das wir als bewusst Agierende selber „ausüben“ und tun;
sie ist aber auch etwas, das uns überkommt und wie eine Verzauberung
widerfährt. Sie ist einesteils eine Regung, die auf Haben und Genießen,
Verkosten aus ist, andererseits ist sie eine Gebärde der selbstvergessenen
Hingabe und des Schenkens, die gerade nicht das Eigene sucht. Liebe ist eine
Hinwendung, die möglicherweise Gott meinen kann, auch andere Menschen (den
Freund, die Geliebte, den Sohn oder den Unbekannten, der unserer Hilfe
bedarf), aber auch die vielfältigen Güter des Lebens (Kunst, Sport,
Wissenschaft, Beruf, Wein, Kleider). Liebe ist schließlich ein Akt, der Gott
selber zugeschrieben wird und sogar in bestimmtem Sinn mit ihm identisch ist.
Es heißt ja in der Heiligen Schrift: „Gott ist die Liebe“ (1 Joh 4, 8).
Liebe setzt Erkennen voraus, sie entspringt aber dem Willen. Sie ist sogar der
Urquell des Wollens. Liebe drängt zum Tun. Man wendet sich dem zu, was man
liebt. Liebe trägt den Wunsch in sich, erkennbar, spürbar zu werden. Sie führt
dazu, dem anderen beizustehen, sie will Freude bereiten. Sie verlangt auch
nach tieferem Erkennen, will alles wissen, was die geliebte Person oder die
geliebte Sache betrifft.
Liebe ist, wenn sie diesen Namen verdienen soll, geistig bzw. wenigstens immer
auch geistiger Art. Das Körperliche kann und soll Träger des Geistigen sein.
Da der Mensch aus Leib und Seele besteht, kommt der Liebe des Menschen eine
entsprechende leib-seelische Struktur zu. Liebe ist von ihrem Wesen her frei.
Beim Nachdenken über diese inneren Zusammenhänge wird bewusst, wie wichtig
für die Entfaltung der Liebe die freiwillig getroffene Entscheidung ist. Liebe
führt zu freiwillig eingegangener Bindung. Es kommt beim Entstehen und in der
Entwicklung einer Liebe der Punkt, an dem es zu einem „Bedürfnis“, in gewissem
Sinn zur „Notwendigkeit“ wird, sich zu binden: Man möchte dem anderen
„gehören“, genauso wie man ihn „besitzen“ möchte. Diese Bindung ist, wenn sie
fest und endgültig wird, ein Schutz der Person und ihrer Würde, sie schenkt
Geborgenheit. Das gilt für die Beziehung zu Gott und für die Beziehung zu den
Menschen. Treue Freunde fühlen sich wohl und gelöst, froh und gesprächig, wenn
sie beisammen sind. In besonderer Weise gilt dies für die Ehe: In der Familie
ist die Treue der Eltern, die niemals in Frage gestellte Festigkeit ihrer
Beziehung wesentliche Voraussetzung für das Geborgenheits-Gefühl und die
gesunde Persönlichkeitsentwicklung der Kinder, denn Vater und Mutter gehören
zu ihrer Identität. Jeder größere Streit zwischen ihnen bringt die Kinder in
Bedrängnis und ihre Trennung hat immer Folgen für die Kinder.
Dass es in einer Beziehung zu einer klaren und definitiven Entscheidung kommt,
ist für die Entwicklung der Liebe selbst von großer Bedeutung. Wenn sich ein
Paar (oder jemand, der einen geistlichen Weg im Sinne des Zölibates gehen
möchte) nicht zu dieser endgültigen Entscheidung durchringen kann, bleibt die
Entwicklung stehen bzw. kommt es meist zur Verkümmerung.
Sehr wichtig ist, dass die Entscheidung für Gott (geistlicher Weg),
füreinander (Ehe) frei ist: das setzt die
nötige Kenntnis (der Person bzw. der Hingabe, die man leben möchte) und den
freien Willen voraus. Nur unter dieser Voraussetzung kann eine wahre Hingabe
entstehen.
Man unterscheidet gewöhnlich unter anderem die
begehrende von der hingebenden
Liebe. Manche protestantische Autoren (vor allem Nygren, aber auch Karl Barth)
meinten gestützt auf die Heilige Schrift fordern zu müssen, dass eine
christliche Liebe absolut selbstlos und daher von jedem ichhaften Begehren
frei sein müsse, was nicht wenig zur Diskreditierung der christlichen
Auffassung von Liebe beigetragen hat. Es gibt jedenfalls auch ein gutes
Begehren, das Gott in das Herz des Menschen gelegt hat, das oft Ansatz zum
Höheren ist. Die Erfahrung, geliebt zu werden, ist für jeden Menschen
grundlegend. Liebe macht den Menschen neu, belebt, verändert ihn. Sie kann
sogar heilen. Oft ist sie das beste, manchmal das einzig wirksame Heilmittel.
Bekannt sind die Untersuchungen von René Spitz, der einerseits Kinder
beobachtet hat, die im Gefängnis geboren und dort, also unter nicht
komfortablen äußeren Bedingungen, von ihren inhaftierten Müttern aufgezogen
wurden, und andererseits Kinder, die ohne ihre Mutter, aber in sorgfältig
ausgestatteten, hygienisch einwandfreien amerikanischen Säuglings- und
Kleinkinderheimen von vorzüglich geschulten Pflegerinnen betreut wurden. Das
Resultat des Vergleichs ist im Grunde genommen gar nicht verwunderlich: die im
Gefängnis geborenen Kinder waren – in Bezug auf Krank-Werden, Sterblichkeit,
Neuroseanfälligkeit – bei weitem besser daran. Nicht, als hätten jene
Pflegerinnen das ihnen Aufgetragene etwa bloß routinemäßig und mit „kalter
Sachlichkeit“ erledigt! Nein, es ist eben nicht genug, sich satt essen zu
können, nicht zu frieren, ein Dach über dem Kopf zu haben und alles, was sonst
noch für die Lebenserhaltung physisch notwendig ist. An all dem fehlte es den
Heimkindern ja keineswegs. Erich Fromm brachte es mit einem Gleichnis zum
Ausdruck. Er sagte in seinem Buch „Die Kunst zu lieben“, man brauche nicht nur
Milch, sondern auch Honig. Mit Milch meinte er all das, was zur Stillung der
bloß leiblichen Bedürfnisse nötig ist. Auch Liebe ist nötig, Zuwendung, die
Aussage: „Wie gut, dass es dich gibt!“ Das symbolisierte er mit Honig.
Um zu den Arten der Liebe zurückzukehren: Immer wurde auch gerne von der
Freundesliebe (amor amicitiae) gesprochen. Bei der
Freundesliebe spielen Ähnlichkeit und Gegensätzlichkeit, das
Anderssein eine Rolle. Beides kann Sympathie, Freundschaft, Liebe auslösen,
dazu führen, dass der andere als „gut“, „schön“, „besonders“, „einmalig“
betrachtet wird. Die „große“ Liebe lässt den anderen immer als unaustauschbar,
als Kostbarkeit, als Juwel erkennen. Daraus ergibt sich: wahre menschliche
Liebe ist Person-Bezognen: der andere ist tatsächlich einmalig, unaustauschbar
(das sind nicht nur schöne Worte). Er bleibt es, auch wenn Schönheit
vergänglich ist, die Wechselfälle des Lebens starke Veränderungen mit sich
bringen. Auch ein kranker, vielleicht verstümmelter Mensch kann schön sein,
schön bleiben (auch unabhängig davon, ob er/sie von einem anderen Menschen
geliebt wird).
Mit der Freundesliebe verwandt ist die Liebe des
Wohlwollens (amor benevolentiae). Gemeint ist dabei nicht nur
Wohlwollen im Sinne, dass man dem anderen gegenüber positiv eingestellt ist.
Amor benevolentiae bedeutet, dass man für den anderen das Beste möchte. Das
kann dazu führen, dass man manchmal wegen der Verhaltensweise des Freundes
besorgt, bekümmert, traurig, vielleicht sogar erzürnt sein kann.
Eine besondere Bedeutung kommt der ehelichen Liebe
zu. Sie hat spezifische Zielsetzungen und Merkmale. Über sie will
ich heute nicht im Konkreten, sondern nur im Allgemeinen reden.
Der biblische Befund ergibt, dass Gottes Wesen die Liebe ist, dass Gott aus
Liebe die Welt und als Krönung der Schöpfung den Menschen erschaffen hat, als
sein Bild und Gleichnis. Und zwar ist der Mensch als Mann und Frau erschaffen
worden und zur Liebe bestimmt. Die Entwicklung und Reifung der Liebe ist das
Ziel jedes menschlichen Lebens. Liebe überdauert alles, sie ist stärker als
der Tod. Wenn der Mensch dieses Ziel erreicht, wird er ewig leben.
Die Berufung zur Liebe ist im Herzen jedes einzelnen Menschen tief verankert;
für jeden Menschen ist es existentiell grundlegend, dass die Liebe von Anfang
an in ihm geweckt wird. Das geschieht zuerst durch die Mutter (schon beim
Erwarten des Kindes), auch durch den Vater, von ihm zunächst nur indirekt
(auch er erwartet das Kind über die Mutter und zusammen mit ihr), dann auch
direkt, später spielen die Geschwister und Freunde für die Entfaltung der
Liebe eine Rolle, besonders wichtig sind der Ehepartner, aber auch Töchter und
Söhne (deren Freunde und Kinder). Von der Erfahrung, geliebt und zur Liebe
fähig zu sein, hängen die Gesamtentwicklung der Persönlichkeit und der ganze
Lebensweg ab. Damit verbunden sind die tiefsten Sehnsüchte, die wir alle in
unseren Herzen tragen, ebenso Glück wie Unglück, manchmal auch sehr tiefe
Wunden und Verletzungen.
Durch Christus wurde uns geoffenbart, dass es neben der Ehe als Weg zur
Entfaltung der Liebe und zur Erreichung des Lebenszieles auch den Weg der
Ehelosigkeit um des Himmelsreiches willen gibt, also eine zweite Art, der
Berufung zur Liebe zu entsprechen.
In beiden Fällen handelt es sich um eine Berufung zur Liebe. Der Gründer des
Opus Dei, der sel. Josefmaria Escrivá, sagte manchmal, die Berufung zum
apostolischen Zölibat sei die Berufung zu einer Liebe mit Großbuchstaben, die
ebenfalls – wie in der Ehe – eine Antwort mit ganzem Herzen fordert. Die
zölibatär Lebenden pflegte er genauso wie die Eheleute zu einer großen,
spürbaren Liebe anzuhalten. „Habt keine Angst zu lieben; die anderen sollen es
merken, dass ihr sie liebt“, wiederholte er gerne.
Es handelt sich also auf beiden Wegen der Liebe um eine ganzheitliche Antwort
mit Seele und Leib, wie es dem Wesen des Menschen entspricht.
Die eheliche Liebe führt freilich im Unterschied zur zölibatären Liebe als
wichtigem und wesentlichem Ausdruck dieser Liebe zur geschlechtlichen
Ganzhingabe ohne Vorbehalt, mit der Bereitschaft bzw. dem Wunsch, Kindern das
Leben zu geben und sie als Geschenk Gottes zu empfangen, um sie mit viel Liebe
zum Leben und zur Liebe zu befähigen.
Auch zölibatäres Leben ist von seinem inneren Wesen als Berufung zur Liebe
nicht nur auf Gott allein, sondern auch auf andere Menschen bezogen. Dieser
Weg wird gewählt, um Gott zu dienen, aber auch anderen auf dem Weg des Lebens
und der Liebe beizustehen. Niemand ist nur persönlich, sozusagen zur eigenen
Vervollkommnung berufen. Das gilt auch für streng beschauliche Berufungen:
Theresia von Avila macht ihren Schwestern im Weg der Vollkommenheit mit aller
Klarheit deutlich, dass die Nächstenliebe unerlässlicher Prüfstein der
Gottesliebe ist. Das führt zur Bemühung um die anderen Mitglieder der
Gemeinschaft, vor allem zum missionarischen Geist, zur Sorge um die weite
Welt. Der Verzicht auf Ehe geschieht, um ungeteilten Herzens für Gott und für
viele da zu sein.
Nun aber ist zu bedenken: Durch den Sündenfall hat der Mensch die Klarheit
des Blickes und die Reinheit des Herzens verloren. „Sie erkannten, dass sie
nackt waren“ (Gen 3, 7), heißt es in der Genesis nach der Beschreibung des
Sündenfalles. Es kommt zur Störung der Beziehung zu Gott und der
zwischenmenschlichen Beziehungen. Kain wird neidisch und tötet Abel. Es
entsteht die Verkettung des Bösen und die Perversion der Liebe. Sie bleibt bei
den durch die Sünde geschwächten und in den Fesseln des Todes verhafteten
Menschen sehr leicht an billigen Gütern hängen: am Materiellen, am Sinnlichen,
an der eigenen Hoffart und Bequemlichkeit und vielem anderen mehr. Vor allem
kommt es zum Egozentrismus, der sich in vielen Spielarten entwickelt, und in
eine Sackgasse mit allmählich stärker werdender Isolierung und Vereinsamung
führt. Das wahre Gut wird nicht mehr erkannt, jedenfalls nicht mit der nötigen
Klarheit, der Wunsch, es zu besitzen, lässt nach. Die Liebe ist schwach
geworden, oft verkümmert, blockiert, in eine falsche Richtung entwickelt.
Aus den fehlgeleiteten Sehnsüchten, die an sich nach dem Großen, Schönen,
Guten, nach Gott verlangen, entstehen Süchte aller Art: Trunksucht, Ehrsucht,
Geldgier, sexuelle Befriedigungssucht, Streitsucht. Es kommt zum Bruch mit
Gott, zur Störung der Beziehung mit den anderen und zu einem tiefen inneren
Zwiespalt. Im Konzilsdokument „Kirche und Welt“ wird es so beschrieben:
„Obwohl sie Gott erkannten, haben sie ihn nicht als Gott verherrlicht, sondern
ihr unverständiges Herz wurde verfinstert, und sie dienten den Geschöpfen
statt dem Schöpfer (vgl. Röm 1, 21–25). Was uns aus der Offenbarung Gottes
bekannt ist, steht mit der Erfahrung im Einklang: Der Mensch erfährt sich,
wenn er in sein Herz schaut, auch zum Bösen geneigt und verstrickt in
vielfältige Übel, die nicht von seinem guten Schöpfer her kommen können. Oft
weigert er sich, Gott als seinen Ursprung anzuerkennen; er durchbricht dadurch
auch die geschuldete Ausrichtung auf sein letztes Ziel, zugleich aber auch
seine ganze Ordnung hinsichtlich seiner selbst, wie hinsichtlich der anderen
Menschen und der ganzen Schöpfung. So ist der Mensch in sich zwiespältig.
Deshalb stellt sich das ganze Leben der Menschen, das einzelne wie das
kollektive, als Kampf dar, und zwar als ein dramatischer zwischen Gut und
Böse, zwischen Licht und Finsternis. Ja, der Mensch findet sich unfähig, durch
sich selbst die Angriffe des Bösen wirksam zu bekämpfen, sodass ein jeder sich
wie in Ketten gefesselt fühlt“ (GS 13). Der Mensch hat durch sein falsches
Verhalten den Weg der Liebe verloren: er ist geschwächt in Erkenntnis und
Willen, blockiert und behindert durch vielfältige Verletzungen und ungeordnete
Neigungen. Im Konzilstext heißt es im Anschluss an die vorher zitierte Stelle:
„Der Herr selbst aber ist gekommen, um den Menschen zu befreien und zu
stärken“.
Gott hat im Verlaufe der Menschheitsgeschichte nie aufgehört, alles zu unternehmen, um den Menschen zu retten: er hat die Patriarchen erweckt und Propheten gesandt. Das Volk Gottes musste die Wüste durchqueren, und als die Fülle der Zeit gekommen war, sandte er seinen Sohn.
Christus bringt die tiefste Offenbarung dessen, was Liebe ist.
Wir werden nie ganz begreifen, was es bedeutet, dass Gott klein wird,
Knechts-Gestalt annimmt und zu lieben anfängt wie der Mensch liebt: mit einem
Herzen aus Fleisch und Blut, spürbar und erfahrbar für uns, die wir zwar Augen
haben und Ohren, aber im Herzen blind und taub sind. Durch IHN öffnet sich ein
Weg.
Wir werden auch nie begreifen, was es bedeutet, dass er nach dreißig Jahren
des Lebens in Verborgenheit – uns in allem gleich, außer in der Sünde – die
Wahrheit verkündet, aber „das geknickte Rohr nicht zerbricht und den
glimmenden Docht nicht auslöscht“ (Jes 42, 3). Christus wendet keine Gewalt
an, um die Wahrheit durchzusetzen, obwohl er die Möglichkeit, die Macht dazu
hätte. „Er bringt wirklich das Recht“, heißt es ebenda. Er wirkt, er leidet,
er stirbt in Liebe zu seinem Vater und in Liebe zu den Menschen. Christus geht
bis zur letzten Konsequenz: Er ist treu zur Wahrheit, absolut treu zum Vater
und seiner Liebe. Er ist zugleich ganz treu zu den Menschen. Er tut es für
sie, das heißt auch an ihrer Stelle: er ist gehorsam für sie, die ungehorsam
sind, leistet Sühne für sie, die Gott beleidigt haben und weiter beleidigen.
Er springt mit seiner Liebe ein, wie gute Eltern es tun, wenn der Sohn oder
die Tochter allerlei anstellen und sie dafür gerade stehen. „Es gibt keine
größere Liebe als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt“ (Joh 5,
13), vertraut Jesus seinen Jüngern an.
„Durch seine Wunden sind wir geheilt“ (Jes 53, 5), heißt es beim Propheten:
Liebe heilt, Liebe verwandelt, Liebe macht neu. Wir wissen das auch aus
eigener Erfahrung. Darin bestand wohl im Wesentlichen das Geheimnis der großen
Wirksamkeit der Erziehungsmethode des Don Bosco, die er wohl von Gott
abgeschaut hat. Gott verwendet jedenfalls diese Methode. Durch den Glauben an
Christus öffnet sich ein Weg, um von neuem Lieben zu lernen:
- er zeigt die Unendlichkeit der Liebe Gottes: durch seine Geburt aus der Jungfrau Maria, durch Liebe und Geduld, mit der er die Wahrheit verkündet, durch sein Leiden und Sterben am Kreuz, durch die Eucharistie.
Es ist auch wichtig, sich dessen bewusst zu sein, dass jede Liebe der
Entfaltung, Läuterung, Reifung bedarf. Das gilt sowohl für die eheliche Liebe
als auch für die Liebe eines zölibatären, ganzheitlich im Dienste des Reiches
Gottes Stehenden.
Liebe entwickelt sich durch die Anziehungskraft dessen, was als gut, schön,
kostbar, wertvoll erkannt wird. In der Beziehung zwischen Mann und Frau
entsteht zunächst Verliebtheit, auf einem geistlichen Weg Begeisterung. Man
ist begeistert von bestimmten Idealen, den ersten geistlichen Erfahrungen, dem
Vorbild eines Priesters oder anderer Personen. In diesen ersten Schritten der
Liebe stehen Sympathie, menschliche Motive, das Beglückt-Sein wegen der
Begeisterung, wegen der Verliebtheit im Vordergrund. Das darf auch so sein,
auch wenn das noch keine sicheren Anzeichen einer wahren Liebe sind. Es sind
höchstens Vorboten. Für die Entfaltung wahrer Liebe ist ein längerer
Reifungsprozess notwendig: manche Haltungen müssen eingeübt, Wege miteinander
gefunden, Schwierigkeiten ausgesprochen und miteinander gelöst, die Motive neu
begründet werden. Ein christliches Ehepaar beginnt, sich und die Kinder immer
mehr „auch“ wegen Gott, wegen Christus zu lieben. Das „versachlicht“ nicht
ihre Liebe, sondern gibt ihr eine größere Stabilität und Tiefe. Ihr
„Schwerpunkt“ wird verlagert. Ähnliches gilt auch für einen geistlichen Weg:
auch auf diesem Weg bedarf es einer Läuterung der Motive, einer Verstärkung
des Realitätsbezuges. Vor allem muss Christus selbst immer mehr zum Tragenden,
Führenden werden. Der eigene Verstand und der eigene Wille werden erleuchtet,
aber auch ihre Grenzen werden klarer erkannt.
Bald wird die Berufung erprobt, kleinere und größere Krisen müssen bewältigt
und oft muss das Ja zum anderen oder zum geistlichen Weg, zur Berufung
erneuert werden. Christus wird dabei immer von neuem als Weg, als der Weg
entdeckt, das Gebet wird als Hilfe erprobt, die Sakramente werden als Quelle,
der Heilige Geist als Führer erfahren. Und immer ist konkretes, persönliches
Bemühen nötig, oft auch der Vorgang der Vergebung und des Neuanfanges. Die
Eigenschaften und Früchte der Gottesliebe bzw. ihre Vorboten werden nach und
nach empfangen: eine wachsende Sehnsucht, fester zu werden, besser verwurzelt,
ein Verlangen nach Verbundenheit mit Gott, ein Weiterwerden des Herzens und
die Befähigung zu größerer Liebe und schnellerer Vergebung.
Es ist ein großes Anliegen heute und immer: Berufungen wecken, den Menschen
auf dem Weg der Liebe beistehen, ihnen bewusst machen, dass Gott sie liebt und
dass sie mit der Hilfe Christi fähig sind zur Liebe. Die „Initiative Hauskirche“
sollte in diesem Sinne eine konkrete Hilfe für Eheleute und ihre Familien
sein, aber auch zölibatär Lebende sind angesprochen, auch sie können vieles
lernen und manches lehren.
Christus ist das Alpha und Omega der Liebe, er senkt das
Samenkorn seiner Liebe,
der wahren Gottesliebe zwischen Vater und Sohn und Heiligem Geist in unsere
Herzen;
bei jedem von uns muss dieses Samenkorn keimen, kräftig werden und reifen,
alle müssen wir uns aber gegenseitig beistehen.