Es wird Zeit, dass wir unsere Überlegung wieder aufnehmen. Wir sind vorhin zum Wesentlichen vorgedrungen, um die Größe unseres Reichtums zu erkennen: unser "ja" das unser Alltagsleben trägt und erleuchtet. Dieses Ja ist der Ursprung des Bandes, das uns verbindet, und ihm ist es zu verdanken, dass unsere Liebe haltbar werden kann. Durch dieses Ja kann auch das Kind wesentliche Realitäten entdecken. Dennoch bin ich mir natürlich voll bewusst, dass dies nicht automatisch so ist und dass leider viele Menschen so leben, als hätten sie nie davon gehört.
Und deshalb bevor ich diese Analyse entwickle, gestatten sie mir
, eine Anekdote zu erzählen, die mehr zeigt als die Theorie, die
außerordentliche Vieldeutigkeit der Wörter und das Gewicht des Schmerzes, das
diese Vieldeutigkeit in sich trägt. Vor einigen Jahren schickte ich mich an
die U-Bahn zu nehmen und indem ich die Treppen hinunter stieg, traf ich eine
Frau, für die der Kinderwagen zu schwer war. Ich half ihr dabei, den
Kinderwagen, in dem das Kind schlief, hinunter zu bringen. Etwas später auf dem
Bahnsteig begann sie schüchtern zu sprechen: "Sehen Sie das Kind " sagte sie
zu mir . Den Vater kenne ich kaum. Wir haben uns eine Nacht geliebt, und dann
ist er weggegangen. Eine kurze Geschichte aber voller Sinn. Wo ist die
Liebe? Man weiß es nicht, oder man versteht darunter zu viel Verschiedenes, wie
das Wort Situationen oder Gefühle verschiedene Haltungen oder sogar
Entgegengesetzte Haltungen versteckt.
Deshalb muss man erklären, was bei der Bindung zwischen Eltern und Kindern auf
dem Spiel steht und bis wohin ihre pädagogische Tragweite reicht. Ich möchte
hinzufügen, dass diese Beziehung Eltern/Kinder sich auch anderen Adressaten
öffnen muss- ich denke hier besonders an die Großeltern.
Folgen wir jetzt dem
Sinn der Geschichte und ziehen daraus, wie ich hoffe, einige Lehren.
Neun Monate lang bereitet man sich davor. Eltern und Geschwister warten ab.
Etwas wird erfahren , was gewissermaßen mit dem Mysterium des Advents
vergleichbar ist. Hinter dem sich wölbenden Leib wächst eine Welt auf, die
größer ist als unser kleiner Planet. Um unsere Erde, kommt man schnell herum.
Wie viel Zeit ist dagegen nötig, um das Geheimnis zu durchleuchten, das die
Tränen und das Lächeln eines Kindes umhüllt. Die Fruchtbarkeit eines Paares
ist eine wunderschöne und zugleich geheimnisvolle Realität. Sie lässt sich
nicht an der Zahl der Kinder messen . Man darf Fertilität und Fruchtbarkeit
nicht miteinander verwechseln. Jene ist ein Zustand des Körpers, diese eine
Eigenschaft der Liebe. Nur das Abgeschnittensein vom Leben macht die Liebe
unfruchtbar. Hier werden wir diese Einheit von Fruchtbarkeit und Fertilität
ins Auge fassen, die gewöhnlich in der Familie und im Rahmen der
Kindererziehung erlebt wird.
Paradoxerweise sind die Kinder unser Reichtum, weil sie von uns Zeit,
Anstrengungen und Geld fordern, aber gerade weil sie von uns viel fordern,
offenbaren sie uns den wahren Reichtum, das heißt die Fähigkeit zum Geben und
Sich hingeben. Das Kind muss erzogen werden, aber paradoxerweise wird gerade es
unser Erzieher werden. Es ist nämlich der Träger zahlreicher Botschaften.
Indem wir ihm aufmerksam zuhören, werden wir entdecken, dass das Kind ein
Prophet ist; es kann uns den Sinn des Lebens, der Liebe, der Zeit und des Todes
offenbaren .Es kann uns zeigen, dass obgleich wir die Eltern sind, wir
grundsätzlich die Geschwister unserer Kinder sind. Kurz, unsere Kinder sind
für uns Meister. Es liegt auf der Hand, dass die Erziehung durch die Eltern
große Anforderungen stellt, denn wir erziehen mit unserer ganzen Person, mit
unsere Seele, unserem Herzen und unserem Leib. Und nur so kann eine
erzieherische Bindung entstehen, die zugleich affektiv und geistlich ist.
Durch ihre ganze Person lehren sie deshalb , weil sie durch ihre ganze Person
lernen. Vom anthropologischen Standpunkt aus ist das Kind weder Schöpfer noch
Tier. Es ist ein Wesen der" Mimesis", ein nachahmendes Wesen. Mit Hilfe seines
ganzen Körpers nähert es sich immer mehr dem Verstand. In sich empfängt es die
Realität und gibt sie durch sein Spiel wieder. Auf diese Weise wird ihm eine
Erfahrung der Welt zuteil. Die Kinder ahmen nach, dass heißt, sie werden eins,
mit all dem was sie sehen und hören. Ich füge hinzu, dass diese Nachahmung sich
durch den ganzen Körper verwirklicht .Ich hatte das zwar in den Büchern
gelesen, aber erst das Leben hat es mir beigebracht.
Als ich eines Abends nach Hause kam und die Treppe des Hauses hinaufging,
hörte ich gellendes Gelächter, das aus dem Haus kam. Die Kinder aßen zu Abend.
Als ich die Stufen weiter hinaufging, fragte ich mich nach dem Grund ihrer
Heiterkeit. In der Küche wurde mein Verdacht bestätigt: unser fünfjähriger
Sohn, der auf einen Hocker gestiegen war, hatte ein Buch genommen und gab eine
philosophische Vorlesung vor seinen entzückten Geschwistern, indem er seltsame
Ausdrücke benutzte, die er aus dem Mund seines Vaters gehört hatte. Dies gab
mir übrigens einen kleinen Stich, weil nicht nur die Kinder lachten, sondern
auch ihre Mutter in das Lachen einstimmte! Indem es seinen Vater nachahmte,
versuchte dieses Kind, derjenige zu sein, den man so schwer kennt: sich
selbst. Die Kinder können nicht anderes tun als uns nachzuahmen.
Sie erinnern sich sicher, dass ich in meinem ersten Vortrag dass Beispiel
erzählt habe, dass unsere älteste Tochter uns immer bis sehr spät am Abend
wach gehalten hat und wie meine Frau dadurch neu die Liebe ihrer eigenen
Mutter entdeckt hat. Aber was wir von den Kindern lernen, geht noch viel
weiter.
Das Kind bringt uns noch etwas über unseren Ursprung in Erinnerung, indem es
uns zeigt, dass das Geschenk des Lebens der Liebe anvertraut ist und es
überhaupt erst verständlich macht. Ohne das Geschenk des Lebens wird das Leben
unbegreiflich. Nicht zufällig wächst heute bei vielen das Gefühl der
Sinnlosigkeit. Da sie nicht mehr Leben schenken wollen, bleibt ihnen der Sinn
des Lebens in seinem tiefsten Wesen verschlossen; denn das Leben ist ein
Geschenk. Sie verstehen sich selbst nicht mehr als das Ergebnis dieser
Hingabe: Sie sind überflüssig. (In der Tat ist in dieser Perspektive jede
Person überflüssig). Ein französischer Dichter sagte: "Nur ein einziges Wesen
fehlt und alles ist entvölkert". Ich glaube , man muss jetzt sagen: ein
einziges Wesen fehlt, das Kind, und alles ist übervölkert.
Nur auf diese Weise könnte man erklären dass die Länder, die die wenigsten
Kinder haben, seltsamerweise diejenigen sind, wo am meisten von
Überbevölkerung gesprochen wird.
Von da aus sehen Sie vielleicht jetzt den ganzen anthropologischen Reichtum
der erzieherischen Beziehung: Eltern/ Kinder, die den Sinn der Person, die
Liebesbegegnung, und die Hingabe betont.
Man muss dies vielleicht mit besonderem Nachdruck betonen. Denn das Kind wird
oft und eigentlich grundsätzlich dargestellt als Gefahr oder Störenfried für
seine Eltern. Es ist ja auch tatsächlich nicht immer einfach, einem
Neuankömmling seinen Platz einzuräumen und das bringt auch oft ein gewisses
maß an Opfern mit sich. Aber es scheint mir unerlässlich zu betonen, dass die
Eheleute dank des Kindes zum Bewusstsein der Tiefe ihrer eigenen ehelichen
Beziehung gelangen können. Aber das wird oft nicht genügend ins Licht gestellt
Das Kind enthüllt den Eltern den höchsten Sinn ihrer Liebe-nämlich sich zu
zweit der Gemeinschaft hinzugeben- und verlangt von ihnen, dass sie es tun. Mit
einem Wort, es verlangt von ihnen, dass sie verantwortlich werden.
Es wird oft gesagt, die Liebe sei die beste Erzieherin, und dies ist kaum zu
leugnen.
Indem sie einander lieben, werden Mann und Frau entdecken, was sie eigentlich
sind und einander dieselbe Erfahrung ermöglichen. "Sag mir, dass du mich
liebst", sagen die Liebenden "und ich werde dir in treuer Liebe offenbaren,
wer du bist". Aber diese Offenbarung enthält eine überströmende Fruchtbarkeit.
Als Paar können sich Mann und Frau einem anderen Leben, nämlich dem des Kindes
erschließen. In Liebe gezeugt kann das Kind jetzt überhaupt erst das
Wesentliche entdecken, nicht das "ich denke, also bin ich" von Descartes,
sondern vielmehr das "sie lieben sich , also bin ich." Für mich ist die zweite
Formel alles in allem tief greifender als die erstere, die sich nur damit
begnügte, -und zwar nicht ohne Zweideutigkeit-, das Sein und das Denken
miteinander zu verknüpfen. Indem es seinen Ursprung entdeckt, kann das Kind
ahnen, dass das Sein im Geheimnis der Liebe steckt. Es kann auch weiterforschen,
und sich fragen: " Warum lieben sie einander?" Jedoch ist eine Antwort darauf
einfach und trotzdem geheimnisvoll: weil er es ist, weil sie es ist, Kurz weil
sie es wert sind, geliebt zu werden. In dieser Gemeinschaft, als welche die
Familie betrachtet werden kann , wird das Kind einsehen, dass jeder Person
Liebe gebührt. Hier ist ein Mensch, der , indem er sich geliebt weiß, sich
auch als der Liebe wert fühlt und dass er dem Geheimnis, das seinem Wesen
zugrunde liegt vertrauen kann.
Sie verstehen also, meine Damen und Herren, dass diese Entdeckung des Seins,
des Lebens und diejenige des Seins der Liebe gleichzeitig stattfinden. Jedoch
bereichern uns die Kinder noch mehr, insofern sie uns den Sinn der Zeit
erläutern.
Vor einigen Jahren gingen wir an jedem Wochenende zu einer alten 95-jährigen
Tante. Sobald sie sie erblickte lief eine unserer Töchter auf sie zu, um sie
zu küssen. Und da rief sie mit innigster Zuneigung aus "Aber, du bist noch
nicht tot!" Für dieses Kind ließ sich das Rätsel des Lebens und des Todes an
dem so geliebten Antlitz seiner alten Tante ablesen. In der Familie braucht
das Kind die Anwesenheit alter Menschen.
Zwischen ihnen besteht ein geheimnis- und harmonievolles Einverständnis , das
uns Erwachsenen eine sehr wichtige Lehre vermittelt. Es ist wohlbekannt , dass
jede Person nach dem ihr eigenen Tempo lebt, das alle ihre Taten
begleitet. Doch das Lebenstempo der Erwachsenen entspricht nicht demjenigen des
Kindes . Wir Erwachsene gehen schneller. Bedenken wir dagegen, dass der Schritt
eines alten Menschen viel mehr mit dem des Kindes im Einklang steht. Ich habe
die Gelegenheit gehabt , dies in Paris festzustellen: am Morgen begleiten die
Eltern die Kinder zur Schule. Das zu sehen ist überhaupt lehrreich. Die Eltern
gehen und die Kinder laufen nebenher. Manchmal holen am Abend die Großeltern
die Kinder von der Schule ab, und es fällt einem schwer herauszufinden, ob die
Großmutter es ist, die als erstere daherzutrippeln angefangen hat oder das
Kind. Es gibt bei Erwachsenen , - das kann man wohl einsehen- ein Zeiterlebnis,
ein Tempo des Lebens, das demjenigen der Kinder nicht ähnlich ist. Der
Erwachsene macht Pläne, und dadurch beherrscht er die Zeit. Nur mit alten
Menschen kann das Kind eine Erfahrung der Zeit gewinnen, die mehr von Genuss
und von einer bescheidenen Haltung gegenüber der vergehenden Zeit geprägt ist
und das sei jedem beherrschenden Handeln Grenzen auferlegt.
Durch diese Überlegungen sehen Sie also etwas wie eine Logik der Liebe
auftauchen, die die ganze Familie bereichert. Es ist als stellten das Kind und
der alte Mensch den Erwachsenen vor seine eigene Verantwortung, als würden sie
ihm das sei den Sinn seines Lebens verständlich machen.
Erwachsen sein heißt überhaupt sich in einem Lebensalter befinden, in welchem
man denjenigen ganz zur Verfügung steht, die man liebt, nämlich den Jüngsten
und den Ältesten.
Dennoch geht die aus der Kindheit gewonnene Lehre noch tiefer und macht es
möglich, den eigentlichen Sinn der Autorität in der Familie zu entdecken. Als
wir vor einigen Jahren, im Ferien waren, beobachtete unser ältester Sohn wie
seine Großmutter, ihren Haushalt führte Denn nahm er ihre Hand und, nachdem er
zu mir, ihrem Sohn geführt hatte, stellte er die folgende sehr einfache
Frage:" Sag mal, Großmutter, wer hat hier die Führung?" "Also ,ich",
antwortete die Großmutter, "mir müssen die Kinder gehorchen". "Aber", fährt
mein Sohn fort, "mein Papa, der ist doch dein Sohn, nicht wahr ?"
"Allerdings", antwortete meine Mutter, die die Gefahr schon zu spüren begann".
Darauf das Kind:," Warum gibst du deinem Sohn dann nicht den Befehl, mir keine
Befehle mehr zu geben?"
Diese- durchaus subversive - Schlussfolgerung enthält eine sehr treffende
Intuition.
Die mit der Vaterschaft verbundene Autorität wird nur auf Zeit ausgeübt und weil man den anderen zur Verfügung steht. Es zeugt von einem gesunden Seelenzustand, wenn ein Kind begreift, dass diese zwar nicht zu bezweifelnde Autorität übertragbar ist. Wenn eines Tages das Kind Großsein wird, wird es diese Autorität ausüben können und müssen. Dank der Großeltern ist die Autorität an den ihr gebührenden Platz gestellt. Die Männer können nur deshalb Väter sein, weil sie auch Söhne gewesen sind. Wir geben alles weiter, was wir bekommen haben, was nichts anderes bedeutet als dass wir nicht die Schöpfer unserer Kinder sind. Der wunderbare Reichtum der menschlichen Vaterschaft besteht darin, dass sie eine göttliche Leihgabe ist; da wir in einem Zustand gegenseitiger Hilfsbereitschaft stehen und dank des Kindes sind wir imstande, den tiefen Sinn der Brüderlichkeit zu entdecken. Dies kommt besonders im Familiengebet zum Ausdruck; dass wir alle hier vor Gott Kinder sind, ist offensichtlich. Auf sehr konkrete Weise bringt jedes Kind der Familie seine Stärke und seine Schwäche. So müssen alle Kinder- und dies erfolgt nicht ohne Mühe- die Brüderlichkeit experimentieren und uns dazu zwingen was die Vaterschaft betrifft das gleiche zu tun . Nur einen Aspekt dieses Problems will ich hier hervorheben. Jedes Kind beansprucht für sich die ganze Liebe seiner Eltern, und das fordert die Logik heraus, da wir jedem Kind sagen müssen:
"Du bist der allerliebste."
Es kommt also darauf an, jedem Kind verständlich zu machen, dass es ganz einzigartig ist und es also verdient, genauso wie die anderen geliebt zu werden. Dieses Paradox enthält ein Erziehungsprinzip, insofern es jeden davor hindert, auf seinen Bruder eifersüchtig zu sein und ihn dazu führt, sich dem Geheimnis der Liebe hinzugeben, die alle Gesetze der Arithmetik übertrifft.
Die Zahl der Kinder hat keine Aufteilung der elterlichen Liebe unter den
Geschwistern zur Folge. Jedes Kind macht das Herz seiner Eltern größer und
genießt oder vielmehr muss das Ganze ihrer Liebe genießen.
Ich möchte noch eine Überlegung hinzufügen, die die Brüderlichkeit im
Familieleben betrifft.
Ich halte die Brüderlichkeit für die Hüterin der echten
Freiheit und der Gleichheit.
Sie bewahrt diese beiden Werte davor, in Ideologie auszuarten.
Im Rahmen der Familie frei sein heißt die Möglichkeit haben, Initiativen zu ergreifen, was jeder mit seinem eigenem Genie, tun kann. Durch solche Initiativen kann sich die Freiheit eines jeden, die der Freiheit der anderen ebenbürtig ist, der Gemeinschaft zur Verfügung stellen. So wird das Glück der Familie zum persönlichen Glück jedes seiner Mitglieder. Es ist von äußerster Bedeutung, dass wir Eltern uns nicht als den ursprünglichen Ausgangspunkt unserer Kinder betrachten. Gegenüber dem unseren liegt ihr eigener Ursprung noch weiter zurück. Dank der in der Familie lebenden Großeltern, wird offensichtlich, dass die menschliche Liebe zugleich Überlieferung und Weitergabe ist. Dank des Kindes, dank jedes Kindes sind wir in der Lage, nachzudenken und jenseits unserer eigenen Vergangenheit den Weg zur Quelle unseres Daseins zurückzugehen. Die in der Familie erlebte Liebe führt uns über die menschlichen Personen hinaus bis ins Herz der Heiligen Dreifaltigkeit.