In den letzten Jahren wird oft die Forderung laut, die Kirche müsse eine
geschwisterliche Kirche werden. In den Ohren mancher ist dies ein Reizwort. Je
nach dem, was unter diesem Begriff verstanden wird, kann es eine Gefahr für
die Identität der Kirche oder ein sehr wichtiges, erstrebenswertes Ziel sein.
Was ist mit "geschwisterlicher Kirche" gemeint? Womit hängt die Forderung nach
einer geschwisterlichen Kirche zusammen?
Geschwisterlichkeit besagt in der Umgangssprache, eine vertraute Beziehung zu
einander haben, der gleichen Familie angehören, miteinander eng verwandt und
verbunden sein, auch gleichgestellt. Ist der letzte Punkt - die Forderung nach
Gleichstellung - mit dem Wesen der Kirche vereinbar?
Das II. Vatikanische Konzil lehrt, dass alle Glieder der Kirche auf Grund von
Taufe und Firmung die gleiche Würde von Kindern Gottes haben und allen das
Streben nach christlicher Vollkommenheit und nach aktiver Teilnahme an der
Sendung der Kirche als gemeinsame Berufung zukommt.
In diesem Sinne heißt es in der Dogmatischen Konstitution über die Kirche:
"Die hl. Kirche ist kraft göttlicher Einrichtung und wunderbarer
Mannigfaltigkeit geordnet und geleitet... eines ist also das auserwählte Volk
Gottes: Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe" (Eph 4,5); gemeinsam die Würde der
Glieder aus ihrer Wiedergeburt in Christus, gemeinsam die Gnade der
Kindschaft, gemeinsam die Berufung zu Vollkommenheit, eines ist das Heil, eine
die Hoffnung und ungeteilte Liebe. Es ist also in Christus und in der Kirche
keine Ungleichheit auf Grund von Rasse und Volkszugehörigkeit, sozialer
Stellung oder Geschlecht; denn "es gilt nicht mehr Jude und Grieche, nicht
Sklave und Freie, nicht Mann und Frau; denn alle seid ihr einer in Christus
Jesus" (Gal 3,28)." (LG 32)
Im Anschluss daran ist dann von der Verschiedenheit der konkreten Wege der
Aufgaben und Charismen die Rede, die richtig ausgeübt keine Ungleichheit,
sondern im Gegenteil Verbundenheit bewirken. "Wenn also in der Kirche nicht
alle denselben Weg gehen, so sind doch alle zur Heiligkeit berufen und haben
den gleichen Glauben erlangt in Gottes Gerechtigkeit. Wenn auch einige nach
Gottes Willen als Lehrer, Ausspender der Geheimnisse und Hirten für die
anderen bestellt sind, so waltet doch unter allen eine wahre Gleichheit in der
allen Gläubigen gemeinsamen Würde und Tätigkeit zum Aufbau des Leibes Christi.
Der Unterschied, den der Herr zwischen den geweihten Amtsträgern und dem
üblichen Gottesvolk gesetzt hat, schließt eine Verbundenheit ein, da ja die
Hirten und die anderen Gläubigen in enger Beziehung miteinander verbunden
sind. Die Hirten der Kirche sollen nach dem Beispiel des Herrn einander und
den übrigen Gläubigen dienen, diese aber sollen voll Eifer mit den Hirten und
Lehrern eng zusammenarbeiten. So geben alle in der Verschiedenheit Zeugnis von
der wunderbaren Einheit im Leibe Christi: denn gerade die Vielfalt der
Gnadengaben, Dienstleistungen und Tätigkeiten vereint die Kinder Gottes, weil
"dies alles der eine und gleiche Geist wirkt" (1 Kor, 12,11)(ebenda). Es wird
auch das schöne Wort des hl. Augustinus angeführt: "Wo mich erschreckt, was
ich für Euch bin, da tröstet mich, was ich mit Euch bin. Für Euch bin ich
Bischof, mit Euch bin ich Christ. Jenes bezeichnet das Amt, dieses die Gnade,
jenes die Gefahr, dieses das Heil." (ebenda)
Nach dem tridentinischen Konzil wurde als Gegenreaktion auf die Haltung der
Reformatoren, die das Weihe-, Lehr- und Leitungsamt der Kirche in Frage
stellten bzw. ablehnten, die Bedeutung der "Amtskirche" stark betont, die
Entstehung der neuen Laienbewegungen in diesem Jahrhundert aber haben den Weg
für ein tieferes Verständnis der Kirche als Volk Gottes bereitet. Zugleich hat
die fortschreitende Säkularisierung in vielen Ländern immer deutlicher die
unumgängliche Notwendigkeit erkennen lassen, wie notwendig die Mitwirkung
aller Glieder der Kirche für den Vollzug des Sendungsauftrages Christi ist. Es
wurde dann zu den wichtigsten Einsichten, die im Laufe der Beratungen des II.
Vatikanums von den Konzilsvätern gewonnen wurde, dass das ganze Volk Gottes
für die Verwirklichung der Sendung der Kirche notwendig ist, ohne die
Verschiedenheit der Aufgaben und Charismen zu übersehen.
Wahrscheinlich spielen unterschiedlichste Faktoren eine Rolle. Es handelt
sich jedenfalls - wie eine nähere Befassung mit der Frage zeigt - nicht nur um
den Wunsch nach einem besseren Miteinander in der Kirche, auch nicht bloß um
einen bestimmten, dem modernen Empfinden entsprechenden Leitungs- und
Lehrstil. Der "Kern" der derzeitigen Auseinandersetzungen in der Kirche hängt
mit der Beschränkung der Weihevollmacht auf bestimmte Personen (Männer) mit
bestimmten Voraussetzungen (u.a. Zölibat) und mit der Ausübung des Lehramtes
und der Leitungsaufgaben zusammen, die - jedenfalls in den höheren Instanzen
die "Weihe" voraussetzen. Die Aufgabenverteilungen der Liturgie wird als
Ungleichheit empfunden und vielleicht noch mehr die Tatsache, dass die meisten
Gremien in der Kirche auf pfarrlicher, diözesaner und weltkirchlicher Ebene
"nur" beratenden Charakter haben und daher der Pfarrer auf der lokalen, der
Bischof auf der diözesanen und der Papst auf der weltkirchlichen Ebene nicht
unbedingt an das Wohl der Mehrheit dieser Gremien gebunden ist (wohl aber
durch Schrift und Überlieferung der Kirche).
Die derzeit mancherorts spürbaren Spannungen in der Kirche hängen insbesondere
mit manchen aktuellen Zeitfragen, mit dem Wandel der Gesellschaft,
insbesondere mit dem fortschreitenden Säkularisierungsprozess und der
Auseinandersetzung mit ihm zusammen. Wenn vom Bevollmächtigten der Kirche an
gewisse, seit eh und je durch das Lehramt vertretene Wertvorstellungen
erinnert wird, die heute von vielen nicht mehr beachtet bzw. akzeptiert
werden, wird fast unvermeidbar der Eindruck der Belehrung, der Disziplinierung
oder gar der versuchten Ausgrenzung bewirkt. Es bildet sich ein Gegenüber
zwischen einer "Kirche von oben" und einer "Kirche von unten", diese letztere
bringt zum Ausdruck, nicht ernst genommen und nicht gehört zu werden, mit den
Problemen allein gelassen zu sein usw . Umgekehrt wird bei der "Kirche von
oben" die Situation als Disziplinlosigkeit, Niedergang oder sogar Revolution
empfunden. Es bildet sich eine Distanz zwischen "oben" und "unten", wobei
allerdings bei genauerem Hinsehen nicht zu übersehen ist, dass sowohl jene
"oben" als auch jene "unten" gespalten sind. Bei jenen von "unten" ist
außerdem nicht klar, inwieweit sie tatsächlich die "Basis" präsentieren. Die
Auseinandersetzungen werden oft heftig, manchmal aggressiv und intolerant
geführt. Von Geschwisterlichkeit ist leider oft nicht viel zu spüren.
Der Eindruck, es fehle in der Kirche an Geschwisterlichkeit wird verschärft,
wenn der Papst Bischöfe oder ein Bischof Pfarrer und Leiter von kirchlichen
Institutionen ernennt, welche in ihren Einstellungen mit größeren Gruppen der
Diözese, der Pfarre oder der betreffenden Einrichtung nicht übereinstimmen.
Es gibt eine Vorstellung von "Geschwisterlichkeit", die mit dem
Wesens-Charakter der Kirche tatsächlich nicht vereinbar ist, weil sie die
Bedeutung des Hirtenamtes zu wenig beachtet sowie das Geheimnis von
Offenbarung und Erlösung, die von Gott ausgehen, zu wenig konsequent vor Augen
haben.
Besteht nicht die Gefahr, dass in unserer Zeit etwas Ähnliches geschieht wie
im 16. Jahrhundert?
Freilich wird von jenen, die in letzter Zeit energisch nach der
geschwisterlichen Kirche rufen, mit aller Klarheit betont, dass sie in keiner
Weise eine Spaltung von der Kirche möchten; dass ihre Forderungen weder gegen
die Bischöfe noch gegen den Papst gerichtet seien. Der einzige Wunsch besteht
darin zu erreichen, dass Papst und Bischöfe von neuem über einige Fragen
nachdenken.
Diese Bemerkung ist sicherlich sehr wichtig. Es hat im Laufe der Geschichte
der Kirche mehrmals längere Perioden heftigen Ringens um Klarheit in manchen
theologischen und sittlichen Fragen gegeben. Man denke z.B. an die
Auseinandersetzung bezüglich der trinitarischen und christologischen Dogmen.
Freilich ist zu bedenken, dass die meisten Fragen, die derzeit - einmal mehr -
als heiße Eisen diskutiert werden, bereits mehrmals und gründlich auf allen
Ebenen der Kirche geprüft, beraten und entschieden wurden. Manchmal könnte man
den Eindruck gewinnen, dass gewisse Themen so oft zur Beratung vorgelegt
werden, bis die Entscheidung "wunschgemäß" gefallen ist.
Es wird auch eingewendet: Das Wort Gottes sei entscheidend. Das ist sicherlich
richtig, aber es ist zu bedenken, dass das in der Heiligen Schrift
überlieferte Wort Gottes der schriftliche Ausdruck der Predigt der Apostel
ist, die diese Schriften im Gegensatz zu den Apokryphen als authentisch
anerkannt haben. Außerdem wurde die Heilige Schrift und das Gesamtglaubensgut
der Kirche anvertraut und ihre Aufgabe ist es, es jeweils der Zeit
entsprechend zu erklären und zu vermitteln. Heilige Schrift,
Glaubensüberlieferung und Lehramt sind in der Kirche untrennbar miteinander
verknüpft.
Viele Menschen berufen sich heute auf die Heilige Schrift und sind trotzdem in
ihren Glaubensauffassungen nicht selten weit von einander entfernt. Schon
Luther, der das Lehramt der Kirche ablehnte, musste sehr bald feststellen,
dass es so viele Interpretationen der Texte wie Köpfe gibt. Andererseits steht
das Lehramt nicht über dem Wort Gottes, sondern dient ihm. Das Lehramt - auch
der Papst, ist daran gebunden und ihm verpflichtet. In diesem Sinn lehrt das
II. Vaticanum: "Die heilige Überlieferung und die Heilige Schrift bilden den
einen der Kirche überlassenen heiligen Schatz des Wortes Gottes. Voller
Anhänglichkeit an ihn verharrt das ganze heilige Volk, mit seinen Hirten
vereint, ständig in der Lehre und Gemeinschaft der Apostel, bei Brotbrechen
und Gebet, sodass im Festhalten am überlieferten Glauben, in seiner
Verwirklichung und in seinem Bekenntnis ein einzigartiger Einklang herrscht
zwischen Vorstehern und Gläubigen.
Die Aufgabe aber, das Geschriebene oder Überlieferte Wort Gottes verbindlich
zu erklären, ist nur dem lebendigen Lehramt der Kirche anvertraut, dessen
Vollmacht im Namen Jesu Christi ausgeübt wird. Das Lehramt ist nicht über dem
Wort Gottes, sondern dient ihm, indem es nichts lehrt, als was überliefert
ist, weil es das Wort Gottes aus göttlichem Auftrag und mit dem Beistand des
Hl. Geistes voll Ehrfurcht hört, heilig bewahrt und treu auslegt und weil es
alles, was es als von Gott geoffenbart zu glauben vorlegt, aus diesem einen
Schatz des Glaubens schöpft. Es zeigt sich also, dass die heilige
Überlieferung, die Heilige Schrift und das Lehramt der Kirche gemäß dem weisen
Ratschluss Gottes so miteinander verknüpft und einander zugesellt sind, dass
keines ohne die anderen besteht und dass alle zusammen, jedes auf seine Art,
durch das Tun des einen Heiligen Geistes wirksam dem Heil der Seelen dienen."
(Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung 10)
Heute wird freilich von nicht wenigen skeptischen und kritischen Geistern der
Einwand mit aller Deutlichkeit erhoben: Hat die Kirche sich nicht häufig und
in vielem geirrt? Besteht nicht die Gefahr des blinden Gehorsams? - Heute wird
jeder, der es wagt, daran festzuhalten, dass sich mit Hilfe der Kirche, mit
Hilfe der von ihr treu tradierten Überlieferung und mit Hilfe ihres Lehramtes
es möglich sei, von der Heiligen Schrift Erkenntnisse abzuleiten, die auch
heute sicher gültig und für das Leben bindend sind, von nicht wenigen sehr
rasch als Fundamentalismus-Anhänger verdächtigt. Aber ist nicht auch ein
kritischer Geist wie Newman noch eingehenden Studien zur Erkenntnis gelangt,
dass die katholische Kirche das Glaubensgut bewahrt hat? Besteht heute nicht
vor allem die Gefahr, dass viele Christen ohne Fundament sind?
Das Ziel muss eine wahre, innere Verbundenheit im Wesentlichen sein mit
gleichzeitiger Beachtung der Verschiedenheit, die bedingt ist durch die
spezifische Berufung des einzelnen, die konkreten Aufgaben, Umstände, auch
unterschiedliche Charismen. Es darf und soll in der Kirche bezüglich
Einsatzmöglichkeiten, Spiritualität, usw. Vielfalt geben. Die Liebe zu
einander in Christus führt zur Achtung vor einander, sie führt auch zu einer
innigen Verbundenheit zwischen Hirten und Volk Gottes, zur Wahrnehmung der
Verantwortung, zu einem Reifungsprozess, der das Leben des einzelnen und der
Gemeinschaft und bei aller Vielfalt und Unterschiedlichkeit das Wesentliche
immer deutlicher hervortreten lässt.
+ Klaus Küng