Ich ließ meine Seele ruhig werden und still;
wie ein kleines Kind bei der Mutter
ist meine Seele still in mir“ Ps 131, 2
Liebe Mitchristen!
Vor kurzem hat mich ein Gespräch überrascht. Jemand, der wegen persönlicher
Umstände gerade eine schwierige Zeit hinter sich hatte, sagte mir auf meine
Nachfrage: „Wissen Sie, in den letzten Jahren habe ich mir angewöhnt, täglich
den Rosenkranz zu beten. Das gab mir innere Ruhe und Halt. Ich habe gelernt,
daraus Kraft zu schöpfen.“ Und die Person fügte hinzu: „Noch vor einigen
Jahren hätte ich mir das nicht vorstellen können. Lange Zeit konnte ich mit
dem Rosenkranz nichts anfangen. Ich empfand dieses Gebet sogar als abstoßend.
In einer Notzeit, als mir Beten sehr schwer fiel, begann ich im Kleinen mit
einem „Gesätzchen“ pro Tag. Es kostete mich Überwindung, dann habe ich
allmählich mehr gebetet. Schließlich wurde es mir wichtig und ich habe über
die letzten Jahre hinweg den Rosenkranz keinen Tag unterlassen.“
Noch jemand anderer brachte mich auf den Gedanken, über das Rosenkranzgebet zu
schreiben, auch wenn es allem Modernen wie eine Provokation erscheinen mag.
Ein junger Mann, der sich nach längerem Ringen zur Aufgabe seiner bisherigen,
recht erfolgreichen, beruflichen Kariere entschloss, um sich ganz in den
Dienst Gottes zu stellen, vertraute mir an: „Immer, wenn ich in eine Krise
gerate, hilft mir Maria. Wenn ich mich an sie wende, geht es mir besser.“
Es ist sicher so, dass viele – nicht nur Junge, auch Ältere – keinen
inneren Zugang zu diesem Gebet haben. Es kommt ihnen eintönig vor, ein
„Geleier“, geistlos, ein Umweg. Warum über Maria zu Jesus und zu Gott? Warum
nicht direkt?
Und doch ist da auch ein Phänomen, das nicht zu übersehen ist. Kaum ein
anderes, von einer großen Zahl von Gläubigen einzeln oder gemeinsam
verrichtetes Gebet hat eine so lange, reichhaltige Geschichte wie der
Rosenkranz. Und wer meint, für junge Menschen komme diese Art des Betens
jedenfalls sicher nicht in Frage, wird Überraschungen erleben. Insbesondere
für Menschen in Not, zur Überwindung von Leid und bei Bewältigung von Sorgen
ist der Rosenkranz auch heute eines der beliebtesten Gebete. Er wird aber auch
von vielen als Hilfe zur Gottverbundenheit inmitten eines stressigen Alltags
oder von neuem als Ruhepol am Abend entdeckt. Der Rosenkranz wird als
einfaches und wertvolles Gemeinschaftsgebet im Kreis der Familie, in kleineren
oder größeren Gruppen geliebt.
Der Ursprung des Rosenkranzes hängt mit dem Stundengebet der Kirche
zusammen. Jene, die es nicht beten konnten, richteten anstelle der 150 Psalmen
ebenso viele Anrufungen an Maria, verbunden mit Predigten über ihr Leben. Aus
dem 13. Jahrhundert sind uns die Betrachtungen des Zisterzienserabtes Etienne
von Salai über die fünfzehn Freuden Mariens erhalten geblieben. Jede dieser
Betrachtungen wurde mit einem „Ave“ abgeschlossen. Besonders stark hat der hl.
Dominikus zur Verbreitung des Rosenkranzgebetes beigetragen. Anlass waren die
damaligen innerkirchlichen Auseinandersetzungen mit den Albigensern, den
Anhängern einer Irrlehre. Der hl. Dominikus wollte einen friedlichen „Kampf“
mit friedlichen Mitteln.
Die Gebetsweise des Rosenkranzes, den man in Angleichung an das Psalmengebet
„Psalter“ nannte, war damals elastisch. Die heutige Form mit den fünfzehn
Geheimnissen, je einem „Vater unser“, zehn „Gegrüßt seist du Maria“ und einem
„Ehre sei dem Vater“ entstand am Ende des 15. Jahrhunderts.
Besondere Blütezeiten erlebte der Rosenkranz in Krisen- und Notzeiten. Den
Sieg über die Türken in der Seeschlacht von Lepanto schrieb der Papst dem
Rosenkranzgebet zu, das im gesamten christlichen Abendland angesichts der
drohenden Gefahren überall verrichtet wurde. Ähnliches gilt auch für die
Befreiung Wiens von der Türkenbelagerung. Die Rettung Wiens war Anlass für die
Einsetzung des Festes Mariä Namen am 12. September.
Das Anschwellen der Wallfahrtsbewegungen in bestimmten Geschichtsperioden
trotz staatlicher Repressalien, wie z.B. in den Zeiten des Kulturkampfes,
während des zweiten Weltkrieges oder in manchen Ländern des Ostens unter
kommunistischer Herrschaft sind beeindruckende Phänomene bis in unsere
Gegenwart. In Österreich wurde der Staatsvertrag zu Recht auch der Fürsprache
Mariens zugeschrieben; viel wurde für dieses Anliegen gebetet. Lourdes,
Fatima, Tschenstochau oder Guadalupe sind neben vielen anderen großen
Marienwallfahrtsorten Gebetsstätten mit einer so besonderen Ausstrahlung und
Wirksamkeit, dass menschliche Erklärungsgründe nicht ausreichen.
Es lohnt sich auch in unserer Zeit und mit dem Blick auf die Zukunft, dem
Rosenkranzgebet Aufmerksamkeit zuzuwenden, auch wenn jeder selbst den inneren
Zugang zu diesem Gebet finden muss und es wahrscheinlich uns allen nicht immer
gleich leicht fällt, ihn zu beten. Jedenfalls haben bis heute immer wieder
viele Gläubige besondere Erfahrungen damit gemacht. In einer alten
französischen Handschrift heißt es: „Wenn die schöne Rose Maria zu blühen
beginnt, vergeht der Winter unserer Widerwärtigkeiten und es beginnt der
Sommer ewiger Freude zu leuchten.“ Damit und mit der Gewohnheit, Marienbilder
mit Rosen zu schmücken, hängt wahrscheinlich auch der Name zusammen, den man
der christlichen Gebets und Zählschnur, dem Rosenkranz, gegeben hat.
„Dieses Gebet bedeutet das Verweilen in der Lebenssphäre Mariens, deren
Inhalt Christus ist“, beschreibt Romano Guardini das Wesentliche des
Rosenkranzes. Adrienne von Speyer sagt, dass „immer neu ein Übergang
geschaffen wird vom mündlichen zum betrachtenden Gebet und vom vorsätzlichen
zum geschenkten Gebet, in dessen Reichtümer wir einfach hinein genommen
werden.“ Damit sind wichtige Wesensmerkmale des Rosenkranzes und Gründe für
seine Faszination ausgedrückt. Dieses Gebet führt uns zu den wesentlichen
Geheimnissen unseres christlichen Glaubens: Als Ausgangspunkt der
Rosenkranzandacht beten wir das Credo, das alle Glaubensgeheimnisse
zusammenfasst. Wir verrichten das Gebet, das uns der Herr gelehrt hat, das
„Vater unser“. Dies schenkt uns jeweils die Grundlage für die Betrachtung der
einzelnen Geheimnisse, die uns in drei Zyklen vorgelegt werden. Der
freudenreiche Rosenkranz wendet unser Augenmerk Gott zu, der Mensch wird,
geboren aus der Jungfrau Maria. Er kommt zu uns, ist Immanuel, Gott mit uns.
Der schmerzhafte Rosenkranz stellt uns das Geheimnis der Erlösung vor Augen,
damit wir es in unser Herz aufnehmen, Heilung und Hilfe erfahren, aber auch
den Ruf zur Nachfolge verspüren. Der glorreiche Rosenkranz richtet unseren
Blick auf unsere Zukunft, die ewige Heimat. Er schenkt uns Hoffnung, Verlangen
nach dem Heiligen Geist, nach Verwandlung.
Die Geheimnisse werden jeweils mit den Worten des Grußes Elisabeths und der
Bitte für uns Sünder betrachtet. Den Abschluss bildet die Hinwendung zur
Allerheiligsten Dreifaltigkeit durch das „Ehre sei dem Vater und dem Sohn und
dem Heiligen Geist“.
Das Besondere des Rosenkranzes ist der Übergang vom Wort zum Geheimnis; das
Zurückgerufenwerden durch das Wort, wenn die Gedanken sich verlieren; das
Angebot der Wiederkehr gleicher Worte, gleicher Geheimnisse, die zur Nahrung
der Seele werden und zur Anregung, zum Ausblick, zur Weitung des Horizontes
führen. Zu den Besonderheiten dieses Gebetes gehört der Reichtum der
Glaubensgeheimnisse, die uns in ihrer Vielfalt nahe gelegt werden und doch in
einfache Kurzformeln zusammengefasst sind. Etwas ganz Besonderes ist die
„Offenheit“ dieses Gebetes. Es bietet einen klaren Rahmen und eine Struktur
für die Abfolge sowohl im gemeinsamen, als auch im persönlichen, privaten
Beten. Die Gedanken erhalten eine Ordnung. Diese bleiben aber trotzdem „frei“,
denn gerade durch die häufige Wiederholung erlangen sie eine unvergleichliche
Vertrautheit, die tief in das Unbewusste hineinreicht und Spielraum für
Erwägungen lässt. Das hat freilich auch eine negative Kehrseite: Wir alle
wissen, wie leicht und wie rasch wir zerstreut sein können (allerdings nicht
nur beim Rosenkranzgebet).
Bei jeder Art des Betens müssen wir wachsam sein, damit wir nicht bloß, wie es
Theresia von Avila einmal formuliert hat, „mit unseren Lippen Geräusche
hervorbringen, während Verstand und Herz weit von Gott entfernt sind“.
Vielleicht ist diesbezüglich beim Rosenkranz eine besondere Wachsamkeit nötig,
weil sich bedingt durch die oben beschriebene Vertrautheit mit den Worten, die
Gefahr eines „automatischen“, routinemäßigen Betens ohne innere Sammlung, das
Abgleiten in „Fantasiereisen“ ohne Verbundenheit mit Gott, sehr leicht
einstellen kann.
Andererseits kann aber der Rosenkranz gerade auch heute, da uns so oft durch
unsere Lebensweise und durch unsere Arbeit Hektik erfasst, zu einer wirksamen
Gebetsschule werden; denn Wiederholung beruhigt. Die Worte des „Vater unser“,
des „Ave Maria“, des „Ehre sei dem Vater“ helfen uns, vom allzu Alltäglichen
etwas Abstand zu gewinnen und Gott und seinen Geheimnissen näher zu kommen.
Das kann eine Art sein, wie wir uns sammeln. Zugleich entdecken wir bei der
Betrachtung der Geheimnisse des Lebens Mariens, des Lebens Jesu, der Erlösung
und der Wahrheiten, die das ewige Leben betreffen, Anrufungen Gottes, die an
uns gerichtet sind, mit unserem Leben zu tun haben und manchmal plötzlich,
andere Male erst nach längerer Zeit ein Licht aufleuchten lassen, das uns
manche unserer Erfahrungen anders – in einem neuen Licht – sehen, Mut fassen,
aufatmen und neu beginnen lassen.
Sofern es sich wirklich um Gebet handelt, das heißt um Zwiegespräch, um
direkten Kontakt mit Gott, ist Gebet immer etwas Persönliches, individuell
verschieden je nach Wesensart, oft auch je nach äußeren und inneren Umständen
und Befindlichkeiten, die sich ändern können. Das zeigt sich auch beim
Rosenkranzgebet, bei diesem Gebet vielleicht sogar ganz besonders. Je nach
Stimmungslage beten wir anders. Es können sich auch sehr hilfreiche und
wohltuende, manchmal direkt heilende Gebetsgewohnheiten entwickeln. Ich denke
z.B. an eine Frau mit einer schwierigen Ehe, die nach einiger Zeit die
Gewohnheit entwickelte, nach einem Ehekrach, der sie meist innerlich stark
aufwühlte, den schmerzhaften Rosenkranz zu beten, sobald die schlimmste
Aufregung vorüber war und sie sich einigermaßen dazu im Stande fühlte. Das
brachte ihr fast immer Linderung, auch eine gewisse Selbstbesinnung, die dann
meist dazu führte, dass ihr auch der eigene Anteil am Entstehen der familiären
Spannungen bewusst wurde. Oft fand sie dann den Weg zu einer aufrichtigen
Beichte, die ihr von neuem vollen Frieden und Ermutigung schenkte.
Ich denke auch an Depressive, die in manchen Phasen ihrer Erkrankung am
ehesten noch einen Rosenkranz „zustande“ bringen, bei schlimmeren Phasen
allerdings auch das nicht. Wenn sie dann wieder mit dem Rosenkranz Kleinweise
anfangen können, ist das bereits ein erstes „Lebenszeichen“. Das Gebet ist ein
Zeichen der Hoffung und der Zuwendung zum Leben. Oder ich denke an einen
Priester, der sich im Gebet des freudenreichen Rosenkranzes oft für die
seelsorgliche Arbeit Mut, Freude, Schwung holt. In einer stärker werdenden
Angst können viele, insbesondere in längeren Wartezeiten, am ehesten einen
Rosenkranz beten. Ein bereits verstorbener Priester unserer Diözese erzählte
manchmal von seinen inneren Erfahrungen während eines Gefängnisaufenthaltes in
der Zeit des Nationalsozialismus. Bei solchen physischen und psychischen
Belastungen sei es schwierig, fast unmöglich, die Gedanken zu einem frei
formulierten Gebet zusammenzuhalten. Er habe in dieser Zeit vor allem
Rosenkranz gebetet. In solchen Verhältnissen komme einem freilich sehr zugute,
wenn man durch eine langjährige Gebetspraxis geübt sei. Oder eine andere
Beobachtung: Schweres Leid, eine große Sorge können durch das beharrliche
Gebet des Rosenkranzes allmählich erträglicher, manchmal mit einer neuen
Sichtweise betrachtet oder sogar in etwas verwandelt werden, was als wertvoll
und segensreich erfahren wird.
Abgesehen von all diesen oft sehr persönlichen Gebetsformen und Erfahrungen
können einige besondere Arten, den Rosenkranz zu beten, unterschieden werden.
Ich meine hier nicht so sehr die äußere Gestaltung: z.B. ob dem „Gesetzchen“
jeweils eine vorformulierte oder frei gesprochene Darstellung des zu
betrachtenden Geheimnisses vorausgeht oder, wie im deutschen Sprachraum
üblicher, bei jedem „Gegrüßet seist du Maria“ das jeweilige „Gesetzchen“ dazu
gesprochen wird. Auch diesbezüglich gibt es alle möglichen Varianten. Ich
meine hier die persönliche Gebetsweise, die auch bei jedem Einzelnen, je nach
Situation, nach innerem Empfinden wechseln kann.
Wenn viele vereint - an einem Ort versammelt oder getrennt an vielen Orten - den Rosenkranz beten, nimmt er den Charakter eines „Sturmgebetes“ an, mit dem großen Gefahren begegnet, Unglück überwunden wird.
Es ist nicht möglich, eine umfassende Darstellung der mit dem
Rosenkranzgebet zusammenhängenden Fragen und Aspekte zu geben. Wichtig scheint
mir, dass bewusst wird, wie wichtig es ist, im Gebet nicht nachzulassen und
sich nicht mit Halbherzigkeiten abzufinden. Unser ganzes Leben lang wird es
ein Anliegen bleiben: gesammelter zu werden, den Kontakt mit Gott intensiver
zu suchen. Im Gebet nicht nur zu reden, sondern vor allem auch zu hören,
hinzuschauen, zu betrachten, aufzunehmen. Dass es uns manchmal schwer fällt,
vielleicht in bestimmten Situationen sogar ausgesprochen schwer, darf uns
nicht verwundern. Mit der Freiheit des Geistes werden wir, geleitet vom
Heiligen Geist, die Quelle des Lebens immer wieder finden und erfahren: Maria
führt zu Jesus, sie ist kein Umweg, sondern oft der direkteste Weg. Sie lenkt
nicht ab, sondern macht feinfühlender und offener für alles, was Gott will.
Viel Freude, Ausdauer und Kraft im Bemühen um das rechte Verständnis des
Rosenkranzgebetes wünscht Ihnen
+ Klaus Küng