Die Entwicklungen der Gesellschaft zeigen bedenkliche Trends: die
Scheidungszahlen sind (gerade bei uns) beeindruckend, die Zahl der Kinder zu
niedrig. Zudem heiraten von Jahr zu Jahr weniger. Die Folgen können nicht
ausbleiben. Die durch die Alterspyramide bedingten finanziellen und
gesellschaftspolitischen Probleme (hoher Gastarbeiteranteil) beginnen sich
bereits deutlich abzuzeichnen. Die komplexen Auswirkungen des Aufwachsens
vieler Kinder und Jugendlicher ohne den Schutz einer intakten Familie und
unter dem Einfluss einer pluralen, oft übererotisierten, kaum
wertevermittelnden Umgebung sind dagegen kaum absehbar.
Auch die Kirche hat zu kämpfen: Sie muss sich in einer stark veränderten
Situation zurechtfinden. Viele sind engagiert und einsatzbereit, aber die
Gottesdienstbesucherzahl sinkt und die Zahl der Priester und Ordensleute
geht zurück. Es gibt positive Aspekte wie die Spendenfreudigkeit oder die
Weltjugendtreffen mit erstaunlich hoher Beteiligung, gesegnete Orte, wie
z.B. manche Kirchen, die jeden Sonntag voll sind (meist nicht ausschließlich
mit Gläubigen aus der eigenen Umgebung), oder manche Klöster,
Erneuerungsbewegungen und Gemeinschaften, die keine Nachwuchsprobleme haben.
Und trotzdem stellt sich die Frage: Sind die derzeit überwiegenden Trends
wieder umkehrbar? Seelsorgliche Initiativen und Anstrengungen der letzten
Jahre scheinen oft nicht zu greifen. Nicht wenige, die in der Seelsorge
tätig sind, laufen Gefahr, angesichts der nun schon länger andauernden
Situation zu resignieren. In Wirklichkeit sind wir heute mehr denn je
genötigt - und das ist gut so -, uns aufrichtig die Frage nach der Mitte
unseres Glaubens zu stellen und zu überlegen, was mit dieser Mitte verknüpft
ist und deshalb eine unabdingbare Voraussetzung der christlichen Freude
darstellt. Das wird zugleich auch die Voraussetzung für eine neuerliche
Ausbreitung des Glaubens und der wahren Erneuerung der Kirche sein. So auf
die Situation der heutigen Gesellschaft und der Kirche zu reagieren, ist
zugleich Herausforderung wie auch Chance.
Einen wichtigen Hinweis hierzu hat uns der Papst mit seinem Apostolischen
Schreiben NOVO MILLENNIO INEUNTE am Beginn des neuen Jahrtausends gegeben.
Er stellte fest:
„Es geht nicht darum, ein „neues Programm“ zu erfinden. Das Programm liegt schon vor: Seit jeher besteht es, zusammengestellt vom Evangelium und von der lebendigen Tradition. Es findet letztlich in Christus selbst seine Mitte. Ihn gilt es kennen zu lernen, zu lieben und nachzuahmen ...“ (29).
Im Grunde genommen wird die Erneuerung des Christentums heute nicht anders geschehen als in seinen Anfängen und in den Erneuerungsvorgängen anderer Epochen.
Jesus ging am See von Galiläa entlang. Er sah Simon und Andreas, den Bruder des Simon, die auf dem See ihr Netz auswarfen und sagte zu ihnen: „Kommt her, folgt mir nach! Ich werde euch zu Menschenfischern machen.“ Ein wenig später sah er Jakobus, den Sohn des Zebedäus, und seinen Bruder Johannes ... (vgl. Mk 1, 16 f). Es begann nicht mit einer Massenbewegung, sondern mit einigen Wenigen. Zwar kam es bald zur Bildung einer größeren Schar von Jüngern und Sympathisanten, aber als Jesus in seiner Verkündigung konkreter und deutlicher wurde und die Aggressionen seitens der Pharisäer und Schriftgelehrten schärfere Formen annahmen, zogen sich die meisten wieder zurück. Es folgte seine Gefangennahme und er wurde getötet. Auch nach seiner Auferstehung und Himmelfahrt vollzog sich die Ausbreitung seiner Lehre nur unter großen Schwierigkeiten und Verfolgungen. Aus einer Handvoll Anhänger ist die größte Religionsgemeinschaft der Menschheit geworden.
Auch wenn bei uns derzeit manche Bereiche in der Kirche rückläufige Tendenzen zeigen, sind wir Christen nicht wenige. Von Tag zu Tag aber wird immer klarer, dass unsere Entscheidung gefragt ist. Denn ER geht auch durch die Straßen unserer Zeit und spricht jeden einzelnen Menschen an. In der Welt von heute ist die Aufgabe und Sendung der Christen wichtiger und dringender denn je! Auf Grund des vorhandenen Wohlstandes, der Entwicklung in Wissenschaft und Technik, der großen Mobilität und der vielen Kommunikationsmöglichkeiten haben die Gefahren, aber auch die Möglichkeiten, Gutes zu tun, zugenommen. Es ist freilich zu wenig, nur gelegentlich oder irgendwie in der Kirche mitzumachen. Wer sich nicht fest in Christus verankert, gerät fast unvermeidbar in den reißenden Fluss der gängigen Strömungen unserer Zeit. Wer sich hingegen aufrichtig in Christus begründet, hat Grund zu wahrer Hoffnung, auch heute und morgen. Unter den Verhältnissen unserer Zeit ist es genauso wie zu anderen Zeiten möglich, konsequent als Christ zu leben. Christus macht zur Liebe fähig, er macht froh und er hilft, auch in der eigenen Begrenztheit und Schwäche einen Weg zum inneren Frieden und zur Wirksamkeit zu finden. Christus steht auch in Schwäche und Sünde bei. Durch solche, die Christus als große Hilfe im Leben und für das Leben erfahren, wird sich auch jetzt und in der Zukunft die Kirche ausbreiten.
Allem anderen voran war sicher das Zeugnis der Apostel von der Lehre der Auferstehung Jesu für die Ausbreitung des Christentums von herausragender Bedeutung; auch die Zeichen und Wunder, welche die Apostel bewirkten, spielten eine Rolle; für den Einzelnen ausschlaggebend war aber letztlich die Entdeckung des liebenden Gottes, der seinen Sohn und den Heiligen Geist in die Welt gesandt hat, damit die Menschen den Weg zur wahren Liebe finden, zur Freiheit der Kinder Gottes und zur Würde derer, die erkennen, dass sie Abbild Gottes sind. Das Christentum war der Weg aus innerer und äußerer Versklavung des Heidentums mit allen seinen Zwängen, Nöten und Ängsten.
Die Grunderfordernisse bleiben im Wesentlichen die selben: Wer nicht den
einen, wahren Gott anbetet, gerät in die Bannkraft von Götzen. Wer die
Gebote Gottes nicht anerkennt und sich Freiheiten nimmt, die man sich nicht
nehmen darf, wird unfrei. Es bilden sich Abhängigkeiten und nicht selten
Süchte (Alkohol, Medikamente, Drogen, Sexsucht). Wer nicht Gott lieben lernt
und durch Gott die anderen, gerät in die Sackgasse des Egoismus, die mit
schmerzhafter Isolierung und Einsamkeit endet. Die modernen Arten der
Unterjochung sind vielleicht subtiler als im Heidentum zu Lebzeiten Jesu und
der Apostel. Die Massenmedien berieseln uns fast Tag und Nacht; zahllose
Angebote sind beinahe allgegenwärtig, unterstützt durch die Werbung, die mit
allen Mitteln der Psychologie sehr aggressiv und vereinnahmend zu Konsum und
Genuss einlädt. Die Dynamik der Leistungsgesellschaft nimmt dem Menschen
fast jeden Freiraum, und es braucht eine starke Persönlichkeit sowie
charakterliche Festigkeit, um im Sog der mehrheitlichen Denk- und
Verhaltensmuster die erforderliche Eigenständigkeit zu bewahren.
Wer sich Gott zuwendet, entdeckt neue Horizonte eines sinnvollen Lebens; mit
der Hilfe Christi wird es möglich, frei zu werden; die Bemühung um die
Einhaltung der Gebote Gottes macht zu großer Liebe fähig; auch früher
erlittene Verwundungen können aufgearbeitet und der Weg zu einem friedlichen
Miteinander gefunden werden. Versagen, Schuld und Schwäche werden nicht zur
unerträglichen Belastung; durch Vergebung entsteht Hoffnung, das Wort Gottes
baut auf, Christus selbst bestärkt und begleitet den Glaubenden und
Vertrauenden auf seinem Weg. Sogar in Leid und Tod lässt der Glaube an
Christus ein Licht aufleuchten. Mit der Hilfe Christi kann jedes Leben, auch
das eines Kranken, eines Behinderten und im allgemeinen trotz aller
persönlichen Grenzen fruchtbar werden.
Ich bin davon überzeugt, dass sich dort, wo Christus in seiner lebendigen
Gegenwart und Wirksamkeit erfahren wird, die Kirchen auch heute und morgen
füllen, und das Christentum sich unter den Menschen ausbreitet, auch unter
den Heiden unserer Zeit.
Auch hinsichtlich dieser Frage ist ein Blick auf die Urkirche hilfreich.
Erste Voraussetzung für die Ausbreitung des Christentums war die wirkliche
Bekehrung der Apostel selbst und aller, die von Jesus den Auftrag erhalten
hatten, in die Welt hinauszugehen, um von ihm und seiner Lehre Zeugnis
abzulegen. Sie mussten nach der Krise des Kalvarienberges, nach
durchlittenen Glaubenszweifeln, vom Heiligen Geist erfüllt werden. Dies
befähigte sie zu verstehen und anzunehmen, was Jesus gelehrt hatte. Sie
mussten innerlich reifen und vor allem die Menschenfurcht ablegen, die sie
am Eintreten für Jesus hinderte.
Die Verlebendigung der Kirche, die neuerliche Ausbreitung des Glaubens in
unseren Häusern, Dörfern, Städten und über unser Land hinaus in andere
Länder setzt die Bekehrung, das innere Wachwerden zunächst Einzelner, dann
größerer Gruppen von Personen voraus; der Glaube muss als hilfreich, und
mehr als das, er muss als existenziell wichtig erfahren werden.
Damit soll nicht behauptet werden, dass heute bei uns nur wenige wirklich
glauben und entsprechend leben. Gott allein weiß, wie viele es wirklich
sind, die Christus als Gottes Sohn und Erlöser erkennen und im Herzen
tragen. Sicher gibt es überall Menschen, die ihm konsequent dienen und fest
auf ihn bauen. Aber ist es nicht doch auch wahr, dass viele Christen heute
die Gebote Gottes nach eigenem Gutdünken auslegen, sofern sie ihnen
überhaupt noch bekannt sind? Leben nicht viele ein Christentum nach eigener
Facon, mit nicht wenigen Abstrichen und Vorbehalten? Herrscht nicht häufig
die Meinung vor, nicht so sehr die Menschen, sondern die Kirche müsse sich
ändern und den heutigen Verhältnissen anpassen, ihre Forderungen seien
veraltet? Es stellt sich folglich die Frage, ob nicht - ganz im Gegenteil -
eine ernsthafte Umkehr für das Wirksamwerden Jesu und seiner Botschaft die
Voraussetzung ist.
Selbst auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen oder gar eintönig zu klingen, scheint es mir unerlässlich, die wesentlichen Punkte aufzuzeigen, die vom Herrn selbst stammen:
Vielleicht werden manche meinen, das beschriebene „Programm“ sei zu
anspruchsvoll und nur für eine kleine Minderheit geeignet. Andere werden es
vielleicht für einfältig erachten oder argumentieren, in der heutigen Zeit
sei alles derart anders, dass es ganz „neue“ Wege zu beschreiten gelte. In
Wirklichkeit sollten wir uns jedoch nichts vormachen und - der Bedeutung und
Dringlichkeit einer Umkehr bewusst - unsere Schlüsse ziehen. Wir dürfen
keine Zeit verlieren. „Man muss die Werke wirken, solange es Tag ist. Es
kommt die Nacht, da niemand wirken kann“ (vgl. Joh 9, 4).
Jeder Tag ist wertvoll, um auf dem Weg zum endgültigen Ziel hin
voranzukommen. Im Vertrauen auf die Hilfe Gottes und den Beistand des
Heiligen Geistes müssen wir unsere Verantwortung wahrnehmen. Es muss unsere
Sorge sein, dass niemand aus unserer Umgebung verloren geht und dass wir
nichts unterlassen, das für die anderen eine Hilfe sein kann.
Der Herr hat versprochen: „Seid gewiss: ich bin bei euch alle Tage bis zum
Ende der Welt“ (Mt 28, 20). Wir dürfen zuversichtlich sein, der Herr wird
uns beistehen.
So wünsche ich Ihnen Gottes Kraft und Segen für ein beherztes Leben aus dem
Glauben an Christus!
Mit herzlichem Gruß
+ Klaus Küng