Geistlicher Rundbrief Nr.: 3/2002

Christsein heute

Die Entwicklungen der Gesellschaft zeigen bedenkliche Trends: die Scheidungszahlen sind (gerade bei uns) beeindruckend, die Zahl der Kinder zu niedrig. Zudem heiraten von Jahr zu Jahr weniger. Die Folgen können nicht ausbleiben. Die durch die Alterspyramide bedingten finanziellen und gesellschaftspolitischen Probleme (hoher Gastarbeiteranteil) beginnen sich bereits deutlich abzuzeichnen. Die komplexen Auswirkungen des Aufwachsens vieler Kinder und Jugendlicher ohne den Schutz einer intakten Familie und unter dem Einfluss einer pluralen, oft übererotisierten, kaum wertevermittelnden Umgebung sind dagegen kaum absehbar.

Auch die Kirche hat zu kämpfen: Sie muss sich in einer stark veränderten Situation zurechtfinden. Viele sind engagiert und einsatzbereit, aber die Gottesdienstbesucherzahl sinkt und die Zahl der Priester und Ordensleute geht zurück. Es gibt positive Aspekte wie die Spendenfreudigkeit oder die Weltjugendtreffen mit erstaunlich hoher Beteiligung, gesegnete Orte, wie z.B. manche Kirchen, die jeden Sonntag voll sind (meist nicht ausschließlich mit Gläubigen aus der eigenen Umgebung), oder manche Klöster, Erneuerungsbewegungen und Gemeinschaften, die keine Nachwuchsprobleme haben. Und trotzdem stellt sich die Frage: Sind die derzeit überwiegenden Trends wieder umkehrbar? Seelsorgliche Initiativen und Anstrengungen der letzten Jahre scheinen oft nicht zu greifen. Nicht wenige, die in der Seelsorge tätig sind, laufen Gefahr, angesichts der nun schon länger andauernden Situation zu resignieren. In Wirklichkeit sind wir heute mehr denn je genötigt - und das ist gut so -, uns aufrichtig die Frage nach der Mitte unseres Glaubens zu stellen und zu überlegen, was mit dieser Mitte verknüpft ist und deshalb eine unabdingbare Voraussetzung der christlichen Freude darstellt. Das wird zugleich auch die Voraussetzung für eine neuerliche Ausbreitung des Glaubens und der wahren Erneuerung der Kirche sein. So auf die Situation der heutigen Gesellschaft und der Kirche zu reagieren, ist zugleich Herausforderung wie auch Chance.

Einen wichtigen Hinweis hierzu hat uns der Papst mit seinem Apostolischen Schreiben NOVO MILLENNIO INEUNTE am Beginn des neuen Jahrtausends gegeben. Er stellte fest:

„Es geht nicht darum, ein „neues Programm“ zu erfinden. Das Programm liegt schon vor: Seit jeher besteht es, zusammengestellt vom Evangelium und von der lebendigen Tradition. Es findet letztlich in Christus selbst seine Mitte. Ihn gilt es kennen zu lernen, zu lieben und nachzuahmen ...“ (29).

Im Grunde genommen wird die Erneuerung des Christentums heute nicht anders geschehen als in seinen Anfängen und in den Erneuerungsvorgängen anderer Epochen.

Wie hat es begonnen?

Jesus ging am See von Galiläa entlang. Er sah Simon und Andreas, den Bruder des Simon, die auf dem See ihr Netz auswarfen und sagte zu ihnen: „Kommt her, folgt mir nach! Ich werde euch zu Menschenfischern machen.“ Ein wenig später sah er Jakobus, den Sohn des Zebedäus, und seinen Bruder Johannes ... (vgl. Mk 1, 16 f). Es begann nicht mit einer Massenbewegung, sondern mit einigen Wenigen. Zwar kam es bald zur Bildung einer größeren Schar von Jüngern und Sympathisanten, aber als Jesus in seiner Verkündigung konkreter und deutlicher wurde und die Aggressionen seitens der Pharisäer und Schriftgelehrten schärfere Formen annahmen, zogen sich die meisten wieder zurück. Es folgte seine Gefangennahme und er wurde getötet. Auch nach seiner Auferstehung und Himmelfahrt vollzog sich die Ausbreitung seiner Lehre nur unter großen Schwierigkeiten und Verfolgungen. Aus einer Handvoll Anhänger ist die größte Religionsgemeinschaft der Menschheit geworden.

Und heute?

Auch wenn bei uns derzeit manche Bereiche in der Kirche rückläufige Tendenzen zeigen, sind wir Christen nicht wenige. Von Tag zu Tag aber wird immer klarer, dass unsere Entscheidung gefragt ist. Denn ER geht auch durch die Straßen unserer Zeit und spricht jeden einzelnen Menschen an. In der Welt von heute ist die Aufgabe und Sendung der Christen wichtiger und dringender denn je! Auf Grund des vorhandenen Wohlstandes, der Entwicklung in Wissenschaft und Technik, der großen Mobilität und der vielen Kommunikationsmöglichkeiten haben die Gefahren, aber auch die Möglichkeiten, Gutes zu tun, zugenommen. Es ist freilich zu wenig, nur gelegentlich oder irgendwie in der Kirche mitzumachen. Wer sich nicht fest in Christus verankert, gerät fast unvermeidbar in den reißenden Fluss der gängigen Strömungen unserer Zeit. Wer sich hingegen aufrichtig in Christus begründet, hat Grund zu wahrer Hoffnung, auch heute und morgen. Unter den Verhältnissen unserer Zeit ist es genauso wie zu anderen Zeiten möglich, konsequent als Christ zu leben. Christus macht zur Liebe fähig, er macht froh und er hilft, auch in der eigenen Begrenztheit und Schwäche einen Weg zum inneren Frieden und zur Wirksamkeit zu finden. Christus steht auch in Schwäche und Sünde bei. Durch solche, die Christus als große Hilfe im Leben und für das Leben erfahren, wird sich auch jetzt und in der Zukunft die Kirche ausbreiten.

Was war der Grund der Ausbreitung des Christentums in den Anfängen?

Allem anderen voran war sicher das Zeugnis der Apostel von der Lehre der Auferstehung Jesu für die Ausbreitung des Christentums von herausragender Bedeutung; auch die Zeichen und Wunder, welche die Apostel bewirkten, spielten eine Rolle; für den Einzelnen ausschlaggebend war aber letztlich die Entdeckung des liebenden Gottes, der seinen Sohn und den Heiligen Geist in die Welt gesandt hat, damit die Menschen den Weg zur wahren Liebe finden, zur Freiheit der Kinder Gottes und zur Würde derer, die erkennen, dass sie Abbild Gottes sind. Das Christentum war der Weg aus innerer und äußerer Versklavung des Heidentums mit allen seinen Zwängen, Nöten und Ängsten.

Und heute?

Die Grunderfordernisse bleiben im Wesentlichen die selben: Wer nicht den einen, wahren Gott anbetet, gerät in die Bannkraft von Götzen. Wer die Gebote Gottes nicht anerkennt und sich Freiheiten nimmt, die man sich nicht nehmen darf, wird unfrei. Es bilden sich Abhängigkeiten und nicht selten Süchte (Alkohol, Medikamente, Drogen, Sexsucht). Wer nicht Gott lieben lernt und durch Gott die anderen, gerät in die Sackgasse des Egoismus, die mit schmerzhafter Isolierung und Einsamkeit endet. Die modernen Arten der Unterjochung sind vielleicht subtiler als im Heidentum zu Lebzeiten Jesu und der Apostel. Die Massenmedien berieseln uns fast Tag und Nacht; zahllose Angebote sind beinahe allgegenwärtig, unterstützt durch die Werbung, die mit allen Mitteln der Psychologie sehr aggressiv und vereinnahmend zu Konsum und Genuss einlädt. Die Dynamik der Leistungsgesellschaft nimmt dem Menschen fast jeden Freiraum, und es braucht eine starke Persönlichkeit sowie charakterliche Festigkeit, um im Sog der mehrheitlichen Denk- und Verhaltensmuster die erforderliche Eigenständigkeit zu bewahren.

Wer sich Gott zuwendet, entdeckt neue Horizonte eines sinnvollen Lebens; mit der Hilfe Christi wird es möglich, frei zu werden; die Bemühung um die Einhaltung der Gebote Gottes macht zu großer Liebe fähig; auch früher erlittene Verwundungen können aufgearbeitet und der Weg zu einem friedlichen Miteinander gefunden werden. Versagen, Schuld und Schwäche werden nicht zur unerträglichen Belastung; durch Vergebung entsteht Hoffnung, das Wort Gottes baut auf, Christus selbst bestärkt und begleitet den Glaubenden und Vertrauenden auf seinem Weg. Sogar in Leid und Tod lässt der Glaube an Christus ein Licht aufleuchten. Mit der Hilfe Christi kann jedes Leben, auch das eines Kranken, eines Behinderten und im allgemeinen trotz aller persönlichen Grenzen fruchtbar werden.

Ich bin davon überzeugt, dass sich dort, wo Christus in seiner lebendigen Gegenwart und Wirksamkeit erfahren wird, die Kirchen auch heute und morgen füllen, und das Christentum sich unter den Menschen ausbreitet, auch unter den Heiden unserer Zeit.

Was ist für die Erneuerung der Kirche und ihrer Glieder grundlegend?

Auch hinsichtlich dieser Frage ist ein Blick auf die Urkirche hilfreich.
Erste Voraussetzung für die Ausbreitung des Christentums war die wirkliche Bekehrung der Apostel selbst und aller, die von Jesus den Auftrag erhalten hatten, in die Welt hinauszugehen, um von ihm und seiner Lehre Zeugnis abzulegen. Sie mussten nach der Krise des Kalvarienberges, nach durchlittenen Glaubenszweifeln, vom Heiligen Geist erfüllt werden. Dies befähigte sie zu verstehen und anzunehmen, was Jesus gelehrt hatte. Sie mussten innerlich reifen und vor allem die Menschenfurcht ablegen, die sie am Eintreten für Jesus hinderte.

Die Verlebendigung der Kirche, die neuerliche Ausbreitung des Glaubens in unseren Häusern, Dörfern, Städten und über unser Land hinaus in andere Länder setzt die Bekehrung, das innere Wachwerden zunächst Einzelner, dann größerer Gruppen von Personen voraus; der Glaube muss als hilfreich, und mehr als das, er muss als existenziell wichtig erfahren werden.

Damit soll nicht behauptet werden, dass heute bei uns nur wenige wirklich glauben und entsprechend leben. Gott allein weiß, wie viele es wirklich sind, die Christus als Gottes Sohn und Erlöser erkennen und im Herzen tragen. Sicher gibt es überall Menschen, die ihm konsequent dienen und fest auf ihn bauen. Aber ist es nicht doch auch wahr, dass viele Christen heute die Gebote Gottes nach eigenem Gutdünken auslegen, sofern sie ihnen überhaupt noch bekannt sind? Leben nicht viele ein Christentum nach eigener Facon, mit nicht wenigen Abstrichen und Vorbehalten? Herrscht nicht häufig die Meinung vor, nicht so sehr die Menschen, sondern die Kirche müsse sich ändern und den heutigen Verhältnissen anpassen, ihre Forderungen seien veraltet? Es stellt sich folglich die Frage, ob nicht - ganz im Gegenteil - eine ernsthafte Umkehr für das Wirksamwerden Jesu und seiner Botschaft die Voraussetzung ist.

Was können, was müssen wir also tun?

Selbst auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen oder gar eintönig zu klingen, scheint es mir unerlässlich, die wesentlichen Punkte aufzuzeigen, die vom Herrn selbst stammen:

Vielleicht werden manche meinen, das beschriebene „Programm“ sei zu anspruchsvoll und nur für eine kleine Minderheit geeignet. Andere werden es vielleicht für einfältig erachten oder argumentieren, in der heutigen Zeit sei alles derart anders, dass es ganz „neue“ Wege zu beschreiten gelte. In Wirklichkeit sollten wir uns jedoch nichts vormachen und - der Bedeutung und Dringlichkeit einer Umkehr bewusst - unsere Schlüsse ziehen. Wir dürfen keine Zeit verlieren. „Man muss die Werke wirken, solange es Tag ist. Es kommt die Nacht, da niemand wirken kann“ (vgl. Joh 9, 4).

Jeder Tag ist wertvoll, um auf dem Weg zum endgültigen Ziel hin voranzukommen. Im Vertrauen auf die Hilfe Gottes und den Beistand des Heiligen Geistes müssen wir unsere Verantwortung wahrnehmen. Es muss unsere Sorge sein, dass niemand aus unserer Umgebung verloren geht und dass wir nichts unterlassen, das für die anderen eine Hilfe sein kann.

Der Herr hat versprochen: „Seid gewiss: ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt“ (Mt 28, 20). Wir dürfen zuversichtlich sein, der Herr wird uns beistehen.

So wünsche ich Ihnen Gottes Kraft und Segen für ein beherztes Leben aus dem Glauben an Christus!

Mit herzlichem Gruß

+ Klaus Küng