Liebe Mitchristen!
Nach längerem Schweigen ist es mir ein Bedürfnis, Ihnen, werte Leserinnen
und Leser des „Geistlichen Rundbriefes“, in der österlichen Zeit ein
ermutigendes Wort zu schreiben. In einer Epoche, in der christlich leben
zugleich fast immer „gegen den Strom schwimmen“ bedeutet und gewisse
gesellschaftliche, einer konsequenten christlichen Lebenspraxis gegenläufige
Entwicklungen scheinbar unaufhaltsam fortschreiten, ist ein ermutigendes
Wort besonders notwendig.
Das Johannesevangelium berichtet von der Begegnung der Jünger mit dem Auferstandenen nach einer beim Fischfang durchwachten Nacht. Thomas, Nathanael, die Söhne des Zebedäus und zwei andere Jünger waren gemeinsam mit Simon Petrus fischen gegangen. „Aber in dieser Nacht fingen sie nichts.“ Wer kennt nicht diese Erfahrung eines scheinbar oder tatsächlich ergebnislosen Bemühens? Für die Apostel traf jedoch eine überraschende Wende ein, denn „als es schon Morgen wurde, stand Jesus am Ufer“ (Joh 21, 3-4). Das ist ein wichtiger Hinweis. Sobald der Morgen kommt, man könnte sagen, sobald die Zeit reif ist, steht Jesus im Licht am Ufer, und sein Wort hat Kraft.
Das gilt auch für uns.
Es übersteigt unser Begreifen, dass Gott seinen Sohn in die Welt gesandt hat
und dass er in der Kirche durch die Verkündigung des Evangeliums, durch die
Spendung der Sakramente, durch die Gläubigen, die ihn im Herzen tragen, bis
ans Ende der Zeit gegenwärtig bleibt. Vor seiner Himmelfahrt hat er den
Seinen versprochen:
„Seid gewiss: ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt“ (Mt 28, 20).
Wir sollten uns dies bewusst machen, besonders dann, wenn uns der
Eindruck innerlich zusetzt, dass unser Bemühen als Christen nicht viel
verändert, dass in der kirchlichen Arbeit wenig oder keine Frucht erkennbar
ist, oder wenn wir glauben, einen hoffnungslosen Kampf zu führen.
Er ist da, auch wenn es uns vielleicht manchmal – oder oft? – so ergeht wie
den Jüngern, die ihn nicht erkannten (Joh 21, 4).
Die Verfluchung des Feigenbaumes ist eigentlich eine schreckliche
Geschichte, die sowohl von Matthäus als auch von Markus berichtet wird. „Er
ging hin, um nach Früchten zu suchen. Aber er fand an dem Baum nichts als
Blätter ...“. Es war eine Verdeutlichung dessen, was er schon bei anderen
Gelegenheiten gelehrt hatte. Bei Matthäus heißt es: „An ihren Früchten
werdet ihr sie erkennen. Erntet man etwa von Dornen Trauben oder von Disteln
Feigen? Jeder gute Baum, bringt gute Früchte hervor, ein schlechter Baum
aber schlechte. Ein guter Baum kann keine schlechten Früchte hervorbringen
und ein schlechter Baum keine guten. Jeder Baum, der keine guten Früchte
hervorbringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen. An ihren Früchten also
werdet ihr sie erkennen“ (Mt 7, 16-20). Und bei Lukas steht das Gleichnis
vom Weingärtner. Der Herr des Weinberges will den Feigenbaum umhauen lassen,
weil er schon dreimal gekommen ist und an ihm keine Früchte gefunden hat.
Der Weingärtner jedoch bittet ihn, noch ein Jahr zu warten, denn „vielleicht
trägt er doch noch Früchte“ (Lk 13, 9).
In manchen christlichen Ländern sind in den letzten Jahren die Früchte
spärlich geworden. Das sieht man seit längerem am Rückgang der geistlichen
Berufe. Inzwischen zeigt es sich auch stark an den Familien, die in immer
größerer Zahl einer Art Säkularisierungsprozess unterliegen, der in manchen
Fällen bis zum Verlust jedes religiösen Bezuges reicht, auch wenn die
meisten ihre Kinder noch taufen und sie bis zu einem gewissen Maße in das
kirchliche Leben eingliedern lassen. Bedingt durch die Situation dieser
Familien – sie sind in der Mehrheit - und damit der ganzen Gesellschaft,
können die Schulen kaum noch christliche Werte vermitteln. Auch die Pfarren
stehen großen Problemen gegenüber, weil die gewohnten Formen der Pastoral
nicht mehr greifen und neue noch nicht gefunden bzw. noch nicht eingeführt
sind.
In
der Natur kommt es bei extremer Trockenheit, bei Ausbleiben der Aussaat, bei
Überwucherung der Felder mit Unkraut, insbesondere bei Zusammentreffen
mehrerer solcher negativer Faktoren, relativ rasch zur Steppenbildung. Der
Boden verliert an Qualität, er verliert weitgehend oder ganz seine
Fruchtbarkeit.
In den Wohlstandsländern hat in den letzten Jahrzehnten eine Art
geistiger Versteppung eingesetzt. Durch berufliche Überbeanspruchung,
die schon in der Kindheit einsetzende, unbewusste Prägung des Denkens durch
Dauer-Fernsehen, die Werbung der Konsumwelt und anderes mehr ist der Glaube
in vielen ausgeblendet, nur noch in medialer Verfärbung vorhanden. Für nicht
wenige, die beten, wenn sie in Nöten sind, brachte und bringt der Wohlstand
Nachlässigkeit in die Praxis des Glaubens.
Da sie - abgesehen von den erwähnten Notsituationen – wenig beten, ist in
vielen Herzen, in vielen Familien, manchmal in ganzen Gemeinden Dürre
ausgebrochen; durch Relativierung der Gebote Gottes, durch mangelndes
Streben nach christlicher Lebensgestaltung hat sich bei vielen das Gewissen
vergröbert. Dazu kommt die Auswirkung der oft die christliche
Glaubenshaltung unterminierenden Berichterstattung durch die Medien. Eine
nicht geringe Rolle spielt die Vernachlässigung der persönlichen Beichte. Es
fehlt innere Erneuerung.
Durch die unterschiedlichen Einstellungen und Voraussetzungen bei den
Gläubigen (bei Schülern und Lehrern, Kindern und Eltern) ist – wie gesagt -
vor allem die schulische, aber auch die pfarrliche Katechese schwierig
geworden. Bei vielen sinkt das Niveau des Glaubenswissens und sogar das
Verständnis für den Glauben. Der Glaube verdunstet trotz des empfangenen
Religionsunterrichts, trotz der Unterweisung in der Pfarre vor der
Erstkommunion und der Firmung, die freilich oft nur punktuelle Erlebnisse
waren.
Entsprechend sind die Folgeerscheinungen. Die Menschen haben in materieller
Hinsicht fast alles, aber es fehlt ihnen das Wichtigste: geistige
Orientierung und Liebe. Der Egoismus gewinnt die Oberhand, die Solidarität
lässt nach, Beziehungen gelingen nicht, seelische Krisen sind häufig usw.
Wenn die negativen Einstellungen überwiegen, wird der geistige Nährboden
geschädigt, wenn nicht sogar weitgehend zerstört. Das betrifft die
Atmosphäre im öffentlichen Leben, in den Unterhaltungen, aber auch in der
Schule, oft schon im Kindergarten. Wenn die Familien selbst betroffen sind,
werden die Kinder fast unvermeidlich in ihrer Persönlichkeitsentwicklung
gehemmt. Wie sollen sie zu Liebe und Verantwortung fähig werden, wenn sie
wenig Liebe erfahren, wenn sie in den Eltern kein Vorbild haben und die
Erziehung mangelhaft ist? Am alten Sprichwort: „Was Hänschen nicht lernt,
lernt Hans nicht mehr“ ist viel Wahres. Ganz besonders gilt dies auch für
die Beziehung zu Gott, zum Glauben, zur Kirche.
Eine dramatische Situation also? – Meiner Einschätzung nach ja. Trotzdem
besteht Hoffnung. Denn Jesus steht auch jetzt am Ufer. Und der Prophet hat
angekündigt: „Ja, ich lege einen Weg an durch die Steppe und Straßen durch
die Wüste“ (Jes 43, 19).
Christus bringt Vergebung: „Durch seine Wunden sind wir geheilt“ (Jes 53,
5). Er schenkt sich als Speise. Wir sind in unseren Bemühungen als Christen
nicht allein. Seine Liebe vermag zu verwandeln. Sogar aus der Sünde kann
Gutes entstehen, wenn echte Bekehrung erfolgt und seine Liebe wirkt. Leiden
können zu etwas werden, was kostbar ist; Prüfungen können dazu führen, dass
eine Reifung erfolgt und sich eine größere Liebe entwickelt. Und diese Liebe
strahlt aus, wirkt ansteckend, kann ein Feuer entzünden, das die Welt
verändert.
Vielleicht wird jemand einwenden: Das alles ist schön und gut, aber die
Menschen wollen heute nichts vom Kreuz wissen und nichts von der Kirche. Das
mag – jedenfalls derzeit – bei nicht wenigen zutreffen.
Wir sollten bedenken: Bei der Verchristlichung eines Volkes ist es nie
auf die Zahl jener angekommen, die den Glauben verbreitet haben, sondern
auf ihre Überzeugung und ihre Echtheit. Das Christentum begann mit sehr
wenigen Gläubigen, zudem kam es zu Verfolgungen, sobald die Zahl der
Christen etwas größer wurde. Trotzdem sind das mächtige römische Reich und
der Götterglaube untergegangen, das Christentum hat sich verbreitet. Ähnlich
ging es auf allen Kontinenten und in allen Jahrhunderten. Auch bei den
Erneuerungsvorgängen der Kirche stoßen wir auf das gleiche Phänomen. Es
waren Heilige, die Veränderungen zum Positiven herbeigeführt haben. Und
Heilige braucht es auch heute.
Vielleicht sagen Sie jetzt: Heilige? Damit bin ich jedenfalls nicht gemeint
... In Wirklichkeit sind wir – obwohl wir wohl alle sagen müssen, dass wir
sicher keine Heiligen sind – alle angesprochen. Denn Gott erwartet von
niemandem, was ihm nicht möglich ist. Er erwartet, dass wir im Vertrauen auf
seine Hilfe, auf sein Wirken tun, was wir können.
Fassen wir Mut: Jeder Einzelne von uns, der Christus im Herzen aufnimmt,
das heißt, ihn aufrichtig sucht, sich auf ihn stützt, auf ihn hört, sein
Leben auf ihn ausrichtet, stellt für die Welt eine Chance dar.
Wer so lebt, findet selbst den Weg zum Frieden und zur Freude, auch wenn das
Kreuz auf seinem Weg nicht fehlen wird, und seine Liebe wird ausstrahlen;
sie wird auch andere auf den richtigen Weg führen, sie wird für diese eine
Wohltat sein, ihnen beistehen, sie retten.
Und wenn sich von neuem christliche Familien im Kleinen und im Großen
(lebendige Pfarren, christliche Gemeinschaften) bilden, wird der Boden der
Gesellschaft wieder fruchtbar werden, es wird auch an geistlichen Berufen
nicht fehlen.
Diesen Auftrag gab Jesus seinen Jüngern vor seiner Rückkehr zum Vater im Himmel. Den Aposteln und ihren Nachfolgern wurde eine besondere Verantwortung für die Verkündigung des Evangeliums auferlegt. Der Auftrag Jesu gilt aber, wie das II. Vatikanische Konzil betont hat, nicht nur für sie, sondern für alle Christen. Wer den Geist Christi empfängt, empfängt seine Liebe und diese will, dass alle gerettet werden und ihr Lebensziel erreichen.
Was können wir tun?
Jesus verspricht: „Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt
reiche Frucht“ (Joh 15, 5). Das Wichtigste ist ohne Zweifel allem anderen
voran eine möglichst konsequente Bemühung um ein christliches Leben, um
echte Verbundenheit mit IHM, der das Licht der Welt ist. Das bedeutet nicht,
dass wir fehlerfrei sein müssen. Niemand ist fehlerfrei außer Jesus
Christus. Um ein christliches Leben bemüht zu sein bedeutet, gegen die
eigenen Fehler anzukämpfen, um Vergebung zu bitten so oft es nötig ist, und
es von Neuem zu versuchen. Es bedeutet vor allem Streben nach wahrem
Christsein, das Verlangen, die Liebe zu Gott und zu den anderen nach dem
Vorbild Christi und mit seinem Beistand praktisch spürbar zu machen. Und
gerade diese Liebe führt dazu, dass wir nicht unterlassen, was den anderen
helfen könnte: Wir werden sie auf Christus und seine Hilfe aufmerksam
machen. Wir werden sie auch wenn nötig auf einen Fehler liebevoll und mit
Verständnis hinweisen. Seine Liebe versteht, verzeiht, erträgt alles. Sie
verändert, wenn sie echt ist, uns und die anderen.
Besonders wichtig scheint mir, dass wir uns angesichts der oft alles
andere als christlichen Atmosphäre in der Öffentlichkeit nicht vom
Pessimismus verführen lassen. Gott verliert nie. Er lässt die Seinen nicht
allein, und die Kirche wird niemals untergehen. Aber es ist notwendig, dass
wir – jeder an seinem Platz und entsprechend der eigenen Berufung – mit der
Nachfolge Christi so gut wir können ernst machen und keinen Punkt, der zu
dieser Nachfolge gehört, bewusst ausklammern. Fehler und Grenzen werden wir
immer haben, aber wir dürfen nicht aufhören, uns beharrlich um Verbesserung
zu bemühen. Wir dürfen auch nicht willkürlich die Gebote Gottes und der
Kirche interpretieren. Damit wäre niemandem geholfen.
Vor allem werden wir uns häufig Gedanken machen, wie wir unsere
Verantwortung den anderen gegenüber besser, wirksamer, mit mehr Liebe
wahrnehmen können.
Jede Familie wird sich überlegen müssen, wie sie es erreichen kann, in den
heutigen Verhältnissen ein christliches Leben zu führen, wie sie den Sonntag
gestaltet, die Feste feiert, die Freizeit nützt, wie und wann sie gemeinsam
betet. Sie wird überlegen müssen, wie erreicht werden kann, füreinander Zeit
zu finden und welche Verbesserungen im Miteinander möglich sind. Es lohnt
sich, über diese, das gemeinsame Leben betreffende Fragen miteinander zu
reden, auch mit anderen christlichen Ehepaaren und Familien den
Gedankenaustausch zu suchen und Anstrengungen zu unternehmen, um auch den
erwachsen werdenden oder bereits erwachsenen Töchtern und Söhnen die Chancen
des Lebenszugewinns durch eine christliche Lebensgestaltung zu erschließen .
Meine Sorge gilt auch den Pfarren, KatechetInnen, ReligionslehrerInnen und
allen, die z.B. in Erstkommunion- und Firmteams bei der Einführung in das
Glaubensleben mittun. Viel Gutes geschieht, viel Einsatz und Bemühung sind
vorhanden. Aber es ist nicht zu verbergen, dass die seelsorglichen Aufgaben
in der heutigen pluralistischen Gesellschaft nicht leicht sind. Mir sind die
Schwierigkeiten bewusst und ich weiß, dass viele ihr Bestes geben. Ich bitte
alle, sich nicht entmutigen zu lassen. Bedenkt, dass vor Gott nichts
vergeblich ist, was wir mit ehrlichem Bemühen in guter Absicht versuchen.
Das Wichtigste ist sicher, dass wir für Christus, für seine Liebe, seine
Botschaft, seine Hingabe am Kreuz Zeugnis geben und wir selbst, so gut es
uns möglich ist, entsprechend leben. Es muss uns vor allem darum gehen, den
jungen Menschen und allen, mit denen wir zu tun haben, Jesus näher zu
bringen, damit ER sie zum Vater führt.
Es ist ein großes Anliegen, erneut eine echte Jugendarbeit aufzubauen, die
den jungen Menschen Halt bietet und Hilfen vermittelt, um den eigenen Weg zu
finden. Die jungen Paare brauchen Bestärkung, damit sie sich bewusst und
voll Vertrauen in den Beistand Gottes zur Gründung einer christlichen
Familie entschließen. Andere brauchen Unterstützung, damit sie durchhalten,
wenn es schwierig wird, wieder andere benötigen Trost und Hilfe mit Rat und
Tat, wenn sie auf ihrem Weg gescheitert sind.
Jesus hat den Seinen versprochen: „Und ich werde die Gabe, die mein Vater
verheißen hat, zu euch herabsenden“. Zugleich gab er den Auftrag: „Bleibt in
der Stadt, bis ihr mit der Kraft aus der Höhe erfüllt werdet“ (Lk 24, 49).
Bauen wir auf das Wirken des Heiligen Geistes, bitten wir um ihn und lassen
wir uns von ihm führen.
Gottes Segen für alle Ihre Bemühungen wünscht von Herzen
+ Klaus Küng